Klagenfurt   - Der deutsche Autor Stefan Moster hat am Donnerstag den Lesewettbewerb bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur im ORF-Theater in Klagenfurt eröffnet. Seine Erzählung rund um eine Jugenderinnerung fand viel Anklang, vor allem seine Sprache wurde sehr gelobt. Auch der gebürtige Kärntner Hugo Ramnek führte die Zuhörer in seine Jugend zurück, allerdings zum Bleiburger Wiesenmarkt und in den zweisprachigen Alltag des Südkärntner Städtchens. Mirjam Richner beschloss den Vormittag mit "Bettlägerigen Geheimnissen", deren wahnhafter Duktus die Juroren irritierte.

Mit dem Romanauszug "Der Einsteiger" hat der deutsche Autor Andreas Stichmann am Nachmittag das Wettlesen  fortgesetzt. Er erhielt für seine traumorientierte "Apotheose einer bürgerlichen Kleinfamilie" viel Lob der Jury, ungeteilt waren die Meinungen aber nicht. Den Abschluss des ersten Lesetages machte Sabine Hassinger, in deren Textauszug die Identitäten durcheinanderpurzelten.

Stefan Moster

Moster las die Erzählung "Der Hund von Saloniki". Der Ich-Erzähler erinnert sich bei einem Urlaub mit seiner Tochter in Istanbul an eine Begebenheit, die er als 18-Jähriger in Saloniki gehabt hatte. Als er damals bis ans Meer getrampt war, wurde er am Strand von einem Hund angefallen, mit dem er sich einen erbitterten Kampf lieferte, der damit endete, dass er das Tier ins Meer warf. Er hatte diese Episode verdrängt, aber als er mit seiner Tochter jungen Männern zusieht, die ebenfalls ihre Hunde ins Wasser werfen, fällt sie ihm  wieder ein. Das Mädchen ist empört über diese Tierquälerei, er versucht, die Aktion zu rechtfertigen. Am Ende überlegt er offenbar, die alte Geschichte seiner Tochter zu erzählen.

Eine schöne Eröffnung der Lesetage, befand Hubert Winkels, eine Meditation über das Erinnern und das Vergessen. "Die Pointe ist nicht, dass das Erlebnis so dramatisch ist, sondern dass sie so wenig dramatisch ist, dass er sie völlig vergessen hat." Hildegard Keller sah eine schöne Verzahnung zwischen den Handlungsebenen. Die Hundeszenen am Anfang seien "sehr eindringlich", urteilte Corinna Caduff, die zum ersten Mal in der Jury sitzt. Sie habe auch die Sprache sehr geschätzt. Juryvorsitzender Burkhard Spinnen, der den Autor nominiert hatte, zeigte sich naturgemäß sehr angetan von der Qualität des Textes. Skeptisch äußerte sich Meike Feßmann, ihr war das Ganze "des Guten zu viel". Paul Jandl bezeichnete die Hundegeschichte als "motivische Auslegeware".

Hugo Ramnek

Die Fahrt eines Mädchens von der "slowenischen Seite" am Kettenkarussell steht im Mittelpunkt der Erzählung Ramneks. Er, als Jugendlicher, beobachtet sie am Jahrmarkt, würde gerne mit ihr anbandeln. Ramnek verwebt in die Erzählung die unsichtbaren Trennlinien, die zwischen der slowenischen und der deutschsprachigen Bevölkerung bestanden und macht sie sichtbar. Seine Beschreibungen der Lustbarkeiten - von Autodrom bis zum Karussell - und des Umgangs der Jugendlichen beider Sprachen untereinander, freundschaftlich und konkurrierend zugleich, sind voll  sprachlicher Wendungen und Metaphern.

Eine davon, die "Kellerechse" im Protagonisten, die als Symbol der sexuellen Erregung dient, sorgte bei den Juroren allerdings für teils scharfe Kritik. Zuviel davon, so der Tenor. Strigl konstatierte eine "literarische Grenzerfahrung" in mehrfachem Sinne. Der Autor setze die Bewegung des Jahrmarktes sehr gut in Sprache um. Das Symbolische sei aber eine Belastung für den Text. Es handle sich nicht nur um Rummel, sondern es sei Rummel, bemängelte etwa Jandl. Spinnen konstatierte: "Dieser Text kommt daher wie eine Marching Brass Band." Dies werde von den Juroren aber zur Seite gedrückt. Es könne, dürfe und müsse auch Texte geben, bei denen Fragen nach gesellschaftlichen und psychologischen Motiven nicht zentral seien. Keller verteidigte "ihren" Autor, der Text habe einen großen Atem, er sei auch wunderbar vorgetragen worden.

Mirjam Richner

"Bettlägerige Geheimnisse" gab es anschließend von der Schweizerin Mirjam Richner. Dabei werden zwei Figuren eingeführt, die aber eigentlich ein und dieselbe Person sind. Reflexionen über die Befindlichkeiten werden verpackt in komplizierte Sprachbilder, gleichzeitig ein wenig salopp. Es wird ein Lawinenabgang eingeführt, samt Todesängsten, sie findet ihre tote Freundin. Ob es die tatsächlich gibt oder imaginiert ist, darüber waren auch die Juroren uneins.

"Die Figur ist zumindest am Rande des Wahnsinns", befand Jandl. Corinna Caduff kritisierte, es sei ein wenig "Hanni und Nanni Style" mit zu beliebigen Sprachbildern. "Dieser Text ist irgendwo auf dem Weg", meinte Keller, er wuchere in alle möglichen Richtungen. Feßmann, die Richner nominiert hatte, wunderte sich darüber, dass ihre Mit-Juroren den Text realistisch gelesen hätten, denn er sei "selbstverständlich surreal". "Dieses Ich denkt über die Schöpfung nach, über das Schreiben nach." Strigl befand, der Text sei "einfach nicht geglückt". Jandl kritisierte, man könne nicht sagen: "Ich mach's mal surreal, dann darf ich alles."

Andreas Stichmann

Stichmanns Protagonist Rupert hat eine Freundin, die krank ist. Um an Geld zu kommen, geht er einbrechen. Als er in eine fremde Wohnung eingedrungen ist, wird das Beute-Machen aber plötzlich zur Nebensache, Der Ich-Erzähler scheint sich mit der Familie, die in dem Haus wohnt, irgendwie zu identifizieren, er übernachtet auch dort. Die Realität verschwimmt teilweise, ob nur in der Imagination Ruperts oder tatsächlich, bleibt unklar. Er beneidet die Bewohner, extrapoliert sie zu dem, was er selbst mit seiner Freundin sein bzw. haben möchte. Wie schon bei Mirjam Richner zuvor verschwimmen die Perspektiven, wird mit Realitätsebenen und -verschiebungen gespielt.

Hubert Winkels sah eine sehr schöne Geschichte, die einen im Unklaren lasse, was daran tatsächlich sei und was imaginiert, es gebe aber auch ein Thriller-Element. Stichmann beschreibe die "Apotheose einer bürgerlichen Kleinfamilie". Paul Jandl las darin "Occupy im Kleinen", wo jemand als Einschleichdieb des bürgerlichen Glücks agiere. Ein "sehr schöner und stimmiger Text". Hildegard Keller konnte hingegen nicht so richtig warm werden mit diesem Rupert. Corinna Caduff kritisierte, das Thema Zugehörigkeit werde hier "zu einfach" gemacht, insgesamt sei es aber eine eher schlichte Erzählung. Meike Feßmann lobte den von ihr vorgeschlagenen Autor, dessen Text wirke schon beim ersten Lesen. Ein klassischer vampiristischer Text, urteilte Burkhard Spinnen. Solche Texte einer Identitätserschleichung habe er schon sehr viele gelesen, aus dem Romanauszug sei ihm die zeitgenössische Relevanz noch nicht klar.

Sabine Hassinger

In "Die Taten und Laute des Tages" von Sabine Hassinger spielt die Autorin mit wechselnden Identitäten, das "Ich" wird laut dem Text vorangestellter Besetzungsliste wahlweise auch von "Berta" dargestellt. Aus den vielen Satzfetzen offenbart sich, dass der Vater gestorben ist, mit dem sich das "Ich", wahlweise aber auch die als "Sie" bezeichnete Mutter offenbar nicht gut verstanden hatten. Wer die Figur des Erzählers ist, kann sich der Leser aussuchen, die Lektüre lässt vieles - vielleicht zu viel - offen. Ach ja, Katzen und eine "Verwunschene" kommen auch noch vor.

Keller konzedierte, beim Lesen des Textes sei sie sich in dem Strom von Wörtern relativ hilflos vorgekommen. Die Autorin gehe anders mit Sprache um, operiere mit musikalischen Elementen, funktioniere nur als gesprochener Text. Daniela Strigl sah "Schönheit und Genauigkeit", die in diesem Text exemplarisch zusammengehen würden, der "eine Art Totenbuch" darstelle. Winkels zeigte sich dagegen "genervt" vom gepflogenen Umgang mit Personalpronomen. Feßmann kritisierte, das Konzept gehe nicht auf. Caduff betonte ausdrücklich, sie begrüße es, dass ein so experimenteller Text überhaupt im Wettbewerb diskutiert werde. Spinnen wollte sich in keine Richtung wertend äußern, die Tatsache allein, dass der Text schwierig sei, dürfe aber nicht als Argument dagegen verwendet werden.

Am Freitag beginnt Inger-Maria Mahlke, nach ihm sind Cornelia Travnicek, Olga Martynova Lisa Kränzler und Simon Froehling an der Reihe.   (APA, 5.7.2012)