Viel besser kann der Tag für einen Hobbyradler nicht beginnen: Der nächtliche Regen hat sich verzogen, die Luft ist klar und frisch, der Asphalt fast vollständig aufgetrocknet. Die 7000-Euro-Karbonräder sind startklar. Und nun fahren auch noch die lokalen Radsportverantwortlichen mit ihrem Peugeot in der "Saline Royal" vor, wo am 9. Juli das zweite Einzelzeitfahren der Tour de France startet.
Das visionäre Bauensemble wurde in den 1770er-Jahren nach den Plänen des Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux im Ort Arc-et-Senans errichtet und sollte zur Idealstadt Chaux werden. So weit kam es nicht. Es blieb bei einer Art Vorstudie, die es immerhin zum Weltkulturerbe der Unesco brachte. Dienten die halbkreisförmig angeordneten Gebäude - stets im Blickfeld des zentral situierten Werkdirektors - damals den Salinenarbeitern als Wohnstätten, so können heute Touristen dort übernachten und im integrierten Museum die kühnen Visionen von Ledoux bestaunen.
Dafür ist nun keine Zeit mehr. Das Einzelzeitfahren ruft, eine Art kollektive Generalprobe. Die Startrampe zur neunten Etappe der Tour de France wird nämlich vor dem Haupteingang der königlichen Salinen aufgebaut und einen Profi nach dem anderen ins gut 40 Kilometer entfernte Besançon entlassen. Die Hauptstadt der ostfranzösischen Region Franche-Comté ist heuer Schauplatz von gleich drei Etappen der großen Schleife.
Uhrenhauptstadt Besancon
Exakt auf jenen Landstraßen, wo Lance Armstrongs Erben demnächst mit rund 50 km/h gegen die Uhr anstrampeln werden, folgt ein Grüppchen Hobbyradsport-Enthusiasten dem offiziellen Tour-Peugeot durch die malerische Landschaft. Der automobile Wegweiser und Schrittmacher sorgt mit seinem auf Profis abgestimmten Tempo dafür, dass sich bei den Pedalrittern bald einmal die Spreu vom Weizen trennt. Letztendlich kommen alle wohlbehalten in Besançon an, das - passend für ein Zeitfahren - als Uhrenhauptstadt Frankreichs gilt. In der von einer Flussschleife gerahmten Altstadt haben nicht nur große Hersteller ihre Niederlassungen. Im Musée du Temps im Palais Granvelle kann man prachtvolle historische Uhrenmodelle bestaunen und verfällt so in Gedanken über die Zeit.
Kulturgeschichtlich hat die Stadt freilich noch viel mehr zu bieten, als ihre Größe von gut 100.000 Einwohnern vermuten ließe. Der bereits erwähnte Architekt Ledoux baute in Besançon das erste moderne Theater. Buchstäblich an einem Platz in der Altstadt versammelt sind die Geburtshäuser von Victor Hugo, einem der letzten Titanen des realistischen Romans, und der Gebrüder Lumière, die in Besançon erstmals die Bilder zum Laufen brachten.
Einen rechten Augenschmaus bieten von hier aus Radtouren entlang des Flusses Doubs, die Teil des europäischen Fernradwegs "EuroVelo 6" sind - auf dem einspurigen Weg vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Etwas abenteuerlich ist dabei die unterirdische Durchquerung der Stadt in einem spärlich beleuchteten Tunnel für Schiffe, aber eben auch für Fußgänger und Radfahrer. Der Doubs steht zwar nicht am Plan der Tour de France 2012, dafür aber einige andere Sehenswürdigkeiten der Franche-Comté.
Im Windschatten der Miss Liberty
So etwa ist die Stadt Belfort - dieser Tage ebenfalls ein Etappenort der Tour - eine Besichtigung wert, allein schon wegen der gewaltigen Befestigungsanlage oder wegen des monumentalen, 22 Meter großen Löwen aus rotem Sandstein, den Frédéric Bartholdi hier errichten ließ. Bekannter wurde der Bildhauer indes mit einem anderen Kunstwerk: der Freiheitsstatue vor New York.
An anderen Prunkstücken der Region fährt der Tour-Tross leider knapp vorbei. So etwa am Ort Montbéliard, wo das in einem Jugendstil-Gebäude untergebrachte Museum der Firma Peugeot zu einer Zeitreise der Automobilgeschichte einlädt. Gleichfalls nur passiert wird die beeindruckende Kapelle Nôtre-Dame-du-Haut in Ronchamp, die der Architekt Le Corbusier in den Fünfzigerjahren errichten ließ - eine Wallfahrtskirche auch und vor allem für alle Architekturinteressierten.
Schließlich fehlt am Tourplan 2012 auch noch der "Ballon d'Alsace", der die Franche-Comté vom Elsass trennt und einen Wallfahrtsort für alle deutschen Radsportfans darstellt. Jan Ullrich hat sich 1997 trotz einer Erkältung dort hinaufgekämpft und seinen Toursieg gesichert - angetrieben von der legendären Aufmunterung seines Teamchefs. Diese allerdings passte so ganz und gar nicht zum göttlichen Genussradeln in der Franche-Comté: "Quäl dich, du Sau!" (Klaus Taschwer, Rondo, DER STANDARD, 6.7.2012)