Physiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf haben offenbar den letzten noch fehlenden Baustein in der gängigen Theorie über den Aufbau des Universums aufgespürt. Am Mittwoch verkündeten die Wissenschafter die Entdeckung eines Elementarteilchens, bei dem es sich sehr wahrscheinlich um das für Masse verantwortliche Higgs-Boson handelt. Nach diesem wird seit Jahrzehnten fieberhaft gefahndet. "Als Laie würde ich sagen, wir haben es", erklärte CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer.

"Unglaublich, dass das zu meinen Lebzeiten passiert"

Der heute 83-jährige britische Physiker Peter Higgs hatte die Existenz des Teilchens bereits 1964 vorhergesagt. Augenscheinlich überwältigt sagte er bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse: "Unglaublich, dass das zu meinen Lebzeiten passiert". Seine Familie solle jetzt schon mal den Champagner kalt stellen.

Die Ergebnisse seien ein Meilenstein für das Verständnis der Natur, sagte Heuer weiter. Er erntete tosenden Beifall, als er die anwesenden Wissenschafter bei der Präsentation in Genf fragte, ob sie seiner Einschätzung der Higgs-Entdeckung zustimmten. Offiziell geben sich die Forscher jedoch bedeckter, da die Identität des bei Experimenten in dem unterirdischen Beschleunigerring bei Genf entdeckten Teilchens noch nicht zweifelsfrei geklärt ist. "Es wäre schon viel Pech, wenn es kein Higgs wäre", sagte der theoretische Physiker Wolfgang Lucha vom Institut für Hochenergiephysik (HEPHY) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) bei einer Pressekonferenz in Wien. Für HEPHY-Direktor Christian Fabjan ist es "ein großer Tag für die Forschung", es sei ein neues Fenster zum Verständnis des Aufbaus unseres Universums aufgestoßen worden.

Gigantische Datenmenegen

Nach den Auswertungen gigantischer Datenmengen, welche die Protonenzusammenstöße bei annähernd Lichtgeschwindigkeit produziert haben, entspricht das Teilchen aber den Erwartungen der Higgs-Theorie. Das Teilchen sorgt demnach dafür, dass alle Objekte eine Masse haben. Die Theorie erklärt, wie sich Teilchen nach dem Urknall zusammenballten, um Sterne, Planeten und schließlich auch Lebewesen zu formen.

Heuer sagte weiter, die genauere Identifizierung des neuen Teilchens werde auch Licht auf andere Mysterien des Universums werfen. Auf der Internetseite des CERN stand am Mittwoch einzig die Nachricht mit der Überschrift: "Das Higgs in greifbarer Nähe ..." Bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen werden seit Monaten am CERN in dem 27 Kilometer langen Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) mit einem gigantischen Energieaufwand Protonen gegeneinander geschleudert, um dann die Trümmer dieser Kollisionen genau registrieren zu können.

Laut den beiden unabhängig voneinander messenden LHC-Detektoren CMS und ATLAS wurde das Teilchen bei einer Masse von rund 125 bis 126 Gigaelektronenvolt (GeV) entdeckt, und zwar "mit einer statistischen Signifikanz von fünf Standardabweichungen (5 Sigma)". Das bedeutet, dass die Chance nur mehr sehr gering ist, dass es sich bei den beobachteten Signalen nur um statistische Schwankungen handelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in einer Welt ohne Higgs solche Zerfälle, wie sie nun ausgewertet wurden, beobachten könnte, liegt bei eins zu drei Millionen, sagte Wolfgang Adam vom HEPHY, das an der 41 Länder umfassenden CMS-Kollaboration beteiligt ist.

Daten von einer Million Milliarden (zehn hoch 15) Protonen-Protonen-Kollisionen ausgewertet

Die Wissenschafter haben die Daten von einer Million Milliarden (zehn hoch 15) Protonen-Protonen-Kollisionen ausgewertet. Bis Ende dieses Jahres erwarten sie, den bis jetzt aufgezeichneten Datensatz verdreifachen zu können. Diese zusätzlichen Daten würden es ermöglichen, die Natur dieses beobachteten neuen Teilchens tiefer zu ergründen. Damit soll geklärt werden, ob es sich um das Higgs-Teilchen handelt, das in die klassische Standardtheorie der Physik passt, die nahezu perfekt fast alle bekannten Phänomene des Mikrokosmos erklärt. Oder ob es besser mit den Vorhersagen einer übergeordneten Theorie wie der Supersymmetrie übereinstimmt, wonach jedem bekannten Teilchen spiegelbildlich ein Partner gegenübersteht. In der Supersymmetrie gäbe es aber nicht nur ein, sondern mindestens gleich fünf Higgs-Teilchen. "Die große Arbeit kommt erst", sagte Lucha. (APA, 04.07. 2012)