Es gibt selten ein Thema, zu dem ein wahrlich breit gefächertes Spektrum an Leuten eine eigene Meinung formuliert und mit Vehemenz und Kompromisslosigkeit öffentlich kundtut. Die neulich entfachte Diskussion über religiöse Beschneidung kann durchaus als Musterbeispiel für dieses Phänomen betrachtet werden. Bemerkenswert ist, dass das Thema, an dem sich die Gemüter erhitzen, sowohl moralische und religiöse als auch medizinische Aspekte beinhaltet. Auch die überdurchschnittliche Anzahl von Männern, die hier ihre Wertung abgeben, ist erstaunlich.

Dem Landgericht Köln ist mit seinem Urteil, das die religiös motivierte rituelle Beschneidung von Buben unter Strafe stellt (derStandard.at hat berichtet), gelungen, eine Debatte auszulösen, angesichts deren Tones sich religiöse Minderheiten besser in Deckung begeben sollten.

Das Unverständnis, das religiösen Gruppen hinsichtlich des Praktizierens von Ritualen wie dem Schächten oder auch der Beschneidung seitens einer säkularen Öffentlichkeit entgegenschlägt, ist oft enorm. Bevor man sich deshalb den demokratiepolitischen Folgen eines Urteils widmet, das zweifelsohne eine in mehreren europäischen Ländern vorhandene Tendenz widerspiegelt, seien einige grundlegende Fakten erwähnt.

Klärung der Fakten

Tatsache ist, dass die Beschneidung von Buben im jungen Alter von einer signifikanten Anzahl von Medizinern in westlichen Ländern wie den USA, Kanada und Australien praktiziert wird. Das ist nicht etwa auf religiöse Motivation und Praxis zurückzuführen, sondern auf die nachgewiesene Verringerung der Ansteckungsgefahr bei einer Reihe von Geschlechtskrankheiten, Harnwegentzündungen sowie dem Papilloma-Virus. Letzterer stellt wiederum einen wesentlichen Grund für Gebärmutterhalskrebs bei Frauen dar.

Wie auch immer nun Eltern zu der Entscheidung stehen mögen, den im Kindesalter höchst unspektakulären Eingriff an ihren Söhnen durchführen zu lassen - es kann mit mehr Sicherheit als bei einer Blinddarmoperation ausgeschlossen werden, dass den Kindern gesundheitliche Probleme aus einer Beschneidung erwachsen werden.

Fehlerhafte Vergleiche

Die Praxis der männlichen Beschneidung auch nur ansatzweise mit der - nach wie vor in vielen Ländern verbreiteten - Genitalverstümmelung von Mädchen zu vergleichen, die wiederum grobe gesundheitliche Schäden nach sich zieht und überdies als Instrument der Unterdrückung verwendet wird, gleicht einem Affront gegenüber jeglicher Vernunft und den legitimen Bedürfnissen von Minderheiten.

Oft wird nun in der laufenden Debatte auf das Selbstbestimmungsrecht von Kindern verwiesen. Dass dieses aber ganz massiv durch - völlig zu Recht - gesellschaftlich akzeptierte Konzepte wie Pflichtschule, Gesundenuntersuchung und viele weitere Fixpunkte im Leben unserer Jüngsten eingeschränkt wird, lassen die selbst ernannten Verteidiger des gesunden Volksempfindens dabei völlig außer Acht.

Dabei handle es sich schließlich, bekommt man dann zu hören, um Maßnahmen, die für das soziale und körperliche Wohlergehen unserer Kinder unumstritten seien. Dass einer bewährten und harmlosen Praxis einer der ältesten europäischen Minderheiten nicht dieselbe Offenheit seitens der Mehrheitsgesellschaft zuteil wird, ist äußerst bedenklich.

Minderheitenrechte hinterfragen

Eine Debatte über Demokratieverständnis und Grundrechte von Minderheiten innerhalb Europas wäre ungleich wichtiger als die teilweise erschreckende Parade an Meinungen, die auf die Gleichmachung und Auslöschung jeglicher Individualität im Namen eines angeblich fortschrittlichen, kollektiven Zeitgeistes abzielen. Bemerkenswert und alarmierend ist die Einigkeit, die in weiten Teilen der Gesellschaft hinsichtlich einer angeblich moralischen Richtigkeit des Urteils zu vernehmen ist.

"Was ist denn die Mehrheit im Ganzen genommen anderes als ein Individuum mit Ansichten und Interessen, die meistens denen eines anderen Individuums, genannt Minderheit, zuwiderlaufen?", fragte der bedeutende Demokratietheoretiker Alexis de Tocqueville vor mehr als 150 Jahren - und folgerte, dass er niemals einer Mehrheit das Recht zugestehen würde, Dinge zu tun, die er jedem Individuum versagen würde.

Wir würden gut daran tun, Einsichten wie diese zu beherzigen und uns an einer Debatte zur Verbesserung der Qualität unserer Demokratien zu beteiligen, die Minderheiten genau dort schützen sollten, wo sie es am meisten brauchen: vor der Mehrheitsmeinung. Vielleicht müssten dann auch nicht dauernd Religionsvertreter auf den Plan treten und Grundsätze westlicher Demokratien vor selbst ernannten Experten postmoderner Sprechschule zu verteidigen.

Es wäre wünschenswert, eine Diskussion über wichtige Angelegenheiten, die tatsächlich alle betreffen - etwa der Stellenwert von Freiheit oder die Qualität von Demokratie und Republik -, mit ähnlicher Vehemenz zu führen. (Reuven Rennert, derStandard.at, 2.7.2012)