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Medikamente sind schnell zur Hand und wirken gegen Symptome - Hilfe von Psychotherapeuten ist dagegen langwierig, aber nachhaltig. Der Vergleich macht die Verfechter allerdings sicher.

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Christian Michelides: Zug in die falsche Richtung.

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Psychotherapie war nie notwendiger als heute. Der Leistungsdruck in Schule, Studium und am Arbeitsplatz steigt explosiv. Die Katastrophenszenarien in Print, Funk, Film und Fernsehen - sei es Fiction oder Realpolitik - übertreffen einander täglich. Die Zahl von Singlehaushalten, Alleinerzieherinnen und Sockelarbeitslosen erreicht historische Höchststände. Zugleich sinkt das Vertrauen in Politik, Kirche und Justiz dramatisch. Globaler Perfektionswahn legt die Latte immer höher - und die Beschleunigung des Denkens und Handelns lässt immer mehr Menschen zurück.

In Zahlen: 1,145.014 Menschen in Österreich bekamen 2009 Psychopharmaka verschrieben, die Kosten für die Kassen betrugen 249 Millionen Euro. Tendenz stark steigend (plus 17 Prozent in zwei Jahren). 32 Prozent aller Frühpensionierungen erfolgen wegen psychischer Belastungen, Tendenz stark steigend. 70.000 Krankenhausaufenthalte, Tendenz steigend, Realkosten nicht bezifferbar. "Außerstationäre Nachbetreuung wenig gewährleistet", so die Salzburger Gebietskrankenkasse - Drehtür-Psychiatrie.

Wir wissen, dass Psychopharmaka belastende Symptome unterdrücken - aber nicht heilen. Wir wissen, dass Psychotherapie Leidensdruck (und Leistungsabfall) heilen kann. Trotzdem setzen Kassen und Spitäler konsequent auf das falsche Pferd. Ausgaben für Psychopharmaka von 249 Millionen Euro standen 2009 Ausgaben für Psychotherapie in Höhe von 62,7 Millionen gegenüber, glatt ein Viertel. Dieses Missverhältnis ist schnell erklärt: Psychopharmaka und Spitalsbett sind jederzeit verfügbar, bewilligungsfrei und für den Patienten fast kostenlos. Psychotherapie bedarf der Suche eines Therapeuten, der Bewilligung durch die Kasse und der Vorfinanzierung durch den Patienten. Und es braucht die Bereitschaft, sich auf einen Prozess der Selbsterfahrung einzulassen.

Zwar haben die Kassen seit 1992 einen Versorgungsauftrag, jedoch ist in zwanzig Jahren kein Vertrag mit der Berufsgruppe zustande gekommen. "Mit den vom Gesetzgeber für Psychotherapie bereitgestellten Mitteln kann Psychotherapie für maximal 0,5 Prozent der Anspruchsberechtigten finanziert werden. Das ist absolut unzureichend", so der Hauptverband. Zudem wurde der Kassenzuschuss zur Psychotherapie seit 1992 nicht erhöht - eine Wertminderung von über 42 Prozent. Einen der wenigen Kassenplätze zu bekommen ist ein Glücksspiel und hängt davon ab, welche Kasse und welcher Therapeut gerade ein freies Kontingent haben. Da sich finanziell Abgesicherte immer Therapie leisten können, betrifft die Schieflage vorwiegend die sozial Schwachen. Jetzt will die Wiener Gebietskrankenkasse auch noch die Finanzierung der Psychoanalyse streichen. Der Zug fährt in die falsche Richtung.

Eindeutiger Kostenvergleich

Bewilligungspflicht und Vorfinanzierung durch den Patienten verhindern oft überlebensnotwendige Therapien. Ein Beispiel: Patient, 45, nach jahrelanger Obdachlosigkeit heute in Mindestpension und Privatkonkurs, in Kindheit und Jugend multipel missbraucht, bricht die Therapie aus Geldmangel ab, es ist kein Kassenplatz verfügbar. Es folgt eine psychotische Episode mit massiver Selbstschädigung und dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt. Mit der Wiederaufnahme der Therapie gelingt es, zwei präpsychotische Episoden abzufangen. Heute positive Prognose, Wiedereinstieg in die Arbeitswelt im Bereich des Möglichen. Drei Wochen Krankenhaus entsprechen den Kosten von etwa 250 Therapiestunden, ausreichend für sechs Jahre Psychotherapie.

Psychotherapie heilt nachweislich und nachhaltig. Die verschiedenen Methoden gegeneinander auszuspielen, ist nicht sinnvoll. Jeder der bewilligten Methoden hat ihre Berechtigung und ihre Stärken. Beispiele:

1.) Klassische Psychoanalyse, vier- bis fünfstündig, liegend. Patient, 24, hat Ängste und Panikattacken. Wurde von seiner Mutter sexuell missbraucht, kam ins Heim. Nach sechs Monaten setzt der Patient die Psychopharmaka ab, nach zweieinhalb Jahren Analyse ist er symptomfrei, voll arbeitsfähig und hat eine Beziehung. Unabhängige Diagnostik davor und danach vorliegend. (Schwere Störung heilen braucht Zeit).

2.) Systemische Familientherapie: Patient, 25, aufgrund Hänseleien in der Adoleszenz (und Aufwachsen ohne Vater) Ängste und Minderwertigkeitsgefühle, lässt keine erotische Nähe zu. Nach vier Monaten lösungsfokussierter Therapie erstmals Sexualität mit einer Frau, die schließlich seine Freundin wird.

3.) Psychoanalytisch orientierte Psychotherapie: Patientin, 34, hat Studium nach psychotischer Episode abgeschlossen, geheiratet und ein Kind bekommen. Massive und begründete Ängste vor Mobbing und Burnout während des Einstiegs in die Arbeitswelt. In zweijähriger Therapie (2-stündig) wird die Arbeitsfähigkeit hergestellt.

4.) Gruppentherapie: Patient, 42, erwerbsunfähig und Pflegegeldempfänger, kommt nach zwei psychotischen Episoden in eine Gruppe. Der Erfolg nach drei Jahren kontinuierlicher Therapie ist " unsichtbar", es kam zu keinem weiteren psychotischen Schub.

In Deutschland ist Psychotherapie eine Kassenleistung, der Therapeut wird angemessen honoriert. In der Schweiz ebenfalls. Ja, es stimmt: Wir österreichischen Psychotherapeuten haben keine effiziente Standesvertretung und wir haben einmal einen suboptimalen Kassenvertrag abgelehnt. Deshalb sollten aber nicht die Patienten und Patientinnen darunter leiden. Derzeit wird Psychotherapie strukturell benachteiligt und bürokratisch behindert. Ein radikales Umdenken - weg von der Medikation, hin zu Gespräch, Therapie, Analyse - tut not. (Christian Michelides, DER STANDARD, 2.7.2012)