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Foto: Reuters/Bektas

Ein paar Panzer hat die türkische Regierung nun an der Grenze zu Syrien in Stellung gebracht, einige Luftabwehrraketen für den Fall der Fälle, und für die „Pufferzone“ wäre im Prinzip alles bereit, so schreibt die in Militärfragen oft gut unterrichtete Tageszeitung Vatan am vergangenen Freitag – wenn es dafür nur auch die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates gäbe. Aller Monate langer, lauter Rhetorik zum Trotz kann die türkische Regierung nur zuwarten: Bashar al-Assad hat sich nicht aus dem Amt wegreden lassen. Die logistische Unterstützung, die Ankara den Rebellen der Freien Syrischen Armee gewährt, und die politische Hilfe für die Exilopposition haben die Türkei aber zu einem Faktor im syrischen Bürgerkrieg gemacht. Weit mehr als alle bisherigen Revolutionen des Arabischen Frühlings stellt die Syrienkrise die Idee vom „türkischen Modell“ in Frage, der angeblichen Vorbildrolle, die Ankara in der arabischen Welt spielt: marktwirtschaftlich, rechtsstaatlich, mit laizistischer Verfassung und konservativ-islamischer Regierung.

Einige Aufsätze türkischer Forscher, die in den vergangenen Wochen veröffentlicht wurde, gehen dieser Frage nach. Die ausführlichste Studie hat im Juni der Think tank USAK (Gesellschaft für internationale strategische Forschung) in Ankara präsentiert. Seine Schlussfolgerung: Es gibt eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, „zwischen der Rolle, die die Türkei zu spielen wünscht und den Fähigkeiten, die sie besitzt“.

Sebnem Gümüscü, eine Politologin an der Sabanci-Universität in Istanbul, argumentierte in einem kurzen Papier für das Yale Journal of International Affairs, dass Ankaras Werben um um die neuen Regierungen in der arabischen Welt kurzfristig Erfolg bringen mag, auf lange Sicht aber die Glaubwürdigkeit der Türkei untergrabe. Hakan Köni, Historiker an der Istanbuler Bilkent Universität, legte im Middle East Journal eine Untersuchung über den Einfluss saudischer NGOs und der saudischen Regierung in der Türkei seit den Beginn der 1970er-Jahre vor. Das ist insofern heute von Belang, als beide Länder gemeinsame Interessen bei der Eindämmung des schiitischen Iran entdeckt haben und entsprechend die syrische Opposition gegen Assad unterstützen, der wiederum Rückhalt in Teheran findet. Köni kündigte eine weitere Studie zu den Beziehungen zwischen der Türkei und Saudi-Arabien im Arabischen Frühling an. Das Schlechteste, was Ankara tun könnte, wäre „Sekten-Grenzen“ zu betonen – also Partei für die Seite der Sunniten zu nehmen, welche die AKP in der Türkei repräsentiert –, schrieb Ziya Öniş, Ökomom und Politologe an der Koç-Universität in Istanbul, in einer anderen, sehr durchdachten Bestandsaufnahme der türkischen Außenpolitik während des Arabischen Frühlings. Die Politik der „Null Probleme mit den Nachbarn“ des amtierenden Außenminister Ahmet Davutoglu sei trotz der neuen Situation des Arabischen Frühlings keinesfalls gescheitert, meint Öniş, doch Übereifer und unilateraler Aktivismus würden sie beschädigen.

Die Studie des an sich regierungsfreundlichen Think tanks USAK trägt den Titel „Turkey's power capacity in the Middle East: Limits of the possible“. Das Autorenduo Osman Bahadir Dinçer und Mustafa Kutlay untersucht verschiedene Parameter außenpolitischer „Macht“ der Türkei in der arabischen Welt, angefangen beim diplomatischen Apparat des Landes. Erste Erkenntnis: Die Türkei hat sehr viel weniger und – zumindest im Sprachbereich – weniger kompetentes Personal als andere europäische Mächte oder die USA und Russland.

Der türkische Außenministerium zählt demnach derzeit 5533 Beschäftigte, davon 1146 Karierrediplomaten, und weltweit 114 Botschaften. Frankreich hat 15008 Angehörige des Außenministeriums, Deutschland 12437, Russland 9500. Mit 436 Millionen Euro ist das Budget des türkischen Außenministeriums etwa siebenmal kleiner als jenes der Deutschen, halb so groß wie das der anderen aufstrebenden Regionalmacht Brasilien und – auch nur zum Vergleich – 90mal kleiner als das Budget des State Departments in Washington.

Die Folgerung der Autoren:

"Turkey's current institutional and human infrastructure is not sufficient enough for it to be an 'order-establishing" actor or 'central country'."

 Ankara unterhält 25 diplomatische Vertretungen mit insgesamt 135 Diplomaten in arabischsprachigen Ländern, das heißt: im Durchschnitt nur ganze fünf Diplomaten in jeder dieser Missionen. Mehr noch: Von den 135 türkischen Diplomaten im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika sprechen genau sechs Arabisch. 26 Diplomaten im türkischen Außenministerium in Ankara sind des Arabischen mächtig, 1990 waren es zehn.

„Public diplomacy“ ist zudem kein Begriff, mit dem türkische Botschafter viel anfangen können, haben die Autoren der USAK-Studie erfahren; Türkische Vertreter in den arabischen Ländern seien oft unzugänglich und distanziert. Dies läuft der aktiv-spontaneistischen Rhetorik von Regierungschef Tayyip Erdogan entgegen, wie sie Sebnem Gümüscü in ihrem Papier als Besonderheit der türkischen Arab spring policy beschreibt:

"In this effort to build ties with the new regimes, Turkey has played the cards of anti-imperialism, Islamic solidarity, and historical as well as emotional ties with the Middle East in order to distinguish Turkey from Western powers. In his visits and speeches, Erdogan frequently refers to the sovereign rights of the people, the legacy of Western imperialism in the region, Islamic history and values, as well as current issues such as Palestinian statehood and Israeli policies. The primary aim in constructing this highly emotional discourse built around notions of Islamic solidarity is to discredit the Western countries with which Turkey competes and thus establish influence over these emerging regimes, particularly since Islamic political parties are likely to be at center-stage in those countries.“

Zumindest die Probleme der institutionellen Mängel in der türkischen Außenpolitik scheinen allerdings lösbar. Im Grunde geht es um Geld für mehr Personal, qualifiziertere Ausbildung und um die Neuorganisation einiger Abläufe im Außenministerium.

Dinçer und Kutlay verwandten einen guten Teil ihre Studie auf die türkische Wirtschaft als einem Faktor möglicher außenpolitischer Macht in der arabischen Welt. Das BIP der Türkei hat sich seit der Bankenkrise von 2001 bekanntlich verdreifacht. Gemessen an der Wirtschaftskraft führt die Türkei nun mit weitem Abstand vor den anderen großen Produzenten in der Region – Ägypten, Iran, Israel. Türkische Unternehmen haben im vergangenen Jahrzehnt entsprechend ihre Exporte im Nahen und Mittleren Osten und Maghreb von sechs auf 16 Prozent des Gesamtvolumens ausgeweitet; größte Kunden sind die Vereinigten Arabischen Emirate, dann der Irak (insbesondere der kurdische Norden) und Ägypten. Die wirtschaftliche Anziehungskraft der Türkei und ihr Einfluss als Exporteur und Auftragnehmer vornehmlich großer Bauprojekte haben allerdings ihre Grenzen, stellen die Autoren der USAK-Studie fest.

Zum einen exportiert die Türkei leicht durch andere Anbieter ersetzbare Waren und nur sehr wenig – 3,5 Prozent – Hi-Tech: Kühlschränke und T-Shirts statt Halbleiter. Zum anderen fehle eine Industriestrategie des türkischen Staates, eine Priorisierung, was gezielt entwickelt und wohin exportiert werden soll. Andere Parameter der „soft power“ geben ein gemischtes Bild ab: Die Anziehungskraft türkischer Universitäten auf Studenten in der arabischen Welt und im Iran ist sehr beschränkt; knapp 1000 Staatsangehörige aus arabischen Ländern waren 2011 mit einer Aufenthaltserlaubnis für Studenten in der Türkei registriert, zwölf Prozent aller ausländischen Studenten (Palästinensergebiete, Irak, Syrien lautet die Reihung). Türkische TV-Serien sind dagegen seit langen Jahren ein Erfolgsprodukt.

Schwer wiegender noch wirken sich auf den Anspruch der Türkei als gestaltende Regionalmacht die eigenen ungelösten Probleme des Landes aus, heißt es in der Studie:

„The precise qualities which make Turkey a role model or an enviable country are also debatable.“

Die undurchsichtigen Entscheidungsprozesse der türkischen Politik, ihre starke Polarisierung, der immer noch nicht gelungene soziale Ausgleich, ungelöste strukturelle Problem wie die Frage der Kurden machen die Außenpolitik der Türkei sprunghaft. Die Werte und das Selbstverständnis der Rolle, die Ankara in der Region spielen möchte, seien zudem nicht klar genug definiert, schreiben Dinçer und Kutlay.

Ziya Öniş sieht hier den Konflikt türkischer Außenpolitik zwischen der verbalen Behauptung ethischer Werte in der arabischen Welt und reinem Selbstinteresse. Während des Arabischen Frühlings 2011 hat dies zu Kurswechseln und widersprüchlichen Positionierungen geführt – Libyen, wo sich Ankara erst vehement gegen eine Intervention stellte und am Ende dann als stärkster Fürsprecher des neuen Regimes in Szene setzte, ist dafür ein Beispiel.

Dann aber wiederum, so bemerkt Öniş, ist dieser Konflikt auch keine türkische Eigenheit; die USA oder Frankreich balancieren ebenfalls immer mit Selbstinteresse und Moral. Der Wissenschaftler von der Koç-Universität empfiehlt den Außenpolitikern in Ankara deshalb „kontrollierten Aktivismus“ und multilaterale Diplomatie statt Alleingänge. In der Syrienfrage scheint die türkische Regierung diesem Rat zu folgen.