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Speed-Dating in Schanghai: eine Dame, viele Verehrer. Bei den unter 30-Jährigen Chinesen gibt es um 20 Millionen mehr Männer als Frauen. Regierung und Forscher befürchten bereits, dass das die Stabilität Chinas gefährden könnte. 

Foto: Reuters/Song

Die Folgen sind ein enormer Männerüberschuss und die kaum noch umkehrbare Erkenntnis, dass China schneller alt wird als reich.

 

Es wirkt wie ein Thema für das Sommerloch. Doch Peking ist es bitter ernst, wenn es die Krise unter seinen Junggesellen alarmierend nennt. 35 Jahre nach Beginn der strikt durchgesetzten Geburtenplanung, Chinas Ein-Kind-Politik, wächst der Überschuss an jungen Männern sprunghaft an. In der Generation der unter 30-Jährigen gibt es bereits 20 Millionen mehr Männer als Frauen. "Das ist erst der Anfang: Pro Jahr werden bei uns in den nächsten zehn Jahren jeweils eine Millionen Männer mehr ins heiratsfähige Alter kommen als gleichaltrige Frauen", schreibt der Tianjiner Bevölkerungsforscher Yuan Xin in der Renmin Ribao (Volkszeitung). Sie bildeten eine neue Problemgruppe, die "Harmonie und Stabilität in der Gesellschaft gefährden kann".

Die drastische Warnung kommt inmitten vermehrter öffentlicher Forderungen zur raschen Beendigung oder radikaler Reform der Politik der Geburtenkontrolle. Das Reich der Mitte hat mit ihr einen Rekord aufgestellt, auf den es nicht mehr stolz ist. Der Fehler war: Peking setzte seine Ein-Kind-Politik in einer Gesellschaft mit tief verankerten feudalen Ansichten durch. Weil traditionell Buben mehr wert als Mädchen seien, wurden in Hunderttausenden Fällen Schwangerschaften durch Abtreibungen unterbrochen.

Absurde Relationen

In nur einer Generation verzerrten sich so die Geburtenrelationen in absurder Weise. UN-Statistiken nennen eine Zahl von 103 bis 107 Bubengeburten auf 100 Mädchen weltweit als Norm, schreibt die Volkszeitung. "Bei uns stiegen sie bis 2008 auf rund 121 Buben auf 100 Mädchen. Wir sind zum Land mit den unausgewogensten Geburtenrelationen geworden."

Die Ein-Kind-Familie hat zudem zu einer Vielzahl von Kettenreaktionen geführt, deren Auswirkungen Bevölkerungsforscher weder richtig bedachten noch so schnell erwartet hatten. Erneut zeigt sich, wie im riesigen Entwicklungsland China ein Extrem ins nächste umschlägt und am Ende seinen weiteren Fortschritt gefährdet.

Ein abscheulicher Fall heizte die Debatte jüngst zusätzlich an: Korrupte Geburtenplaner setzten die Ein-Kind-Politik in Shaanxi bei einer Bäuerin gewaltsam durch. Zur gleichen Zeit, als das Land seine erste Astronautin als "Heldin der Gleichberechtigung" feierte, zeigten Zeitungen und Internet barbarische Fotos. Die im siebten Monat schwangere Feng Jianmei verlor durch eine Zwangsabtreibung ihr zweites Kind.

Jahrelang brüsteten sich Pekings Bevölkerungsplaner mit dem Erfolg erzwungener Mindergeburten, deren Zahl sie für die vergangenen 35 Jahre auf bis zu 400 Millionen ausrechneten. Dadurch seien ebenso viele Münder weniger zu füttern gewesen, und Chinas bescheidener Wohlstand habe sich schneller mehren lassen. Die Milchmädchenrechnung übersah, dass die Geburtenplanung auch die Alterspyramide so schnell wie in keinem anderen Land der Welt kippen lassen würde. Ende 2011 waren 185 Millionen Menschen (13,7 Prozent der Bevölkerung) über 60 Jahre.

"China wird schneller alt als reich", lautet nun ein Argument in den aktuellen Debatten, ob in den Städten das Pensionsalter für Frauen auf 60 und für Männer auf 65 Jahre erhöht werden muss. Nur so lasse sich der Konkurs der Sozialfonds für die eben landesweit aufgebauten bescheidenen Grundpensionen aufhalten, argumentieren Befürworter.

Kontroversen lösen auch die Folgen des absehbaren Rekrutierungsende für Wanderarbeiter aus. Den Billigarbeiter-Heeren verdankt China seinen explosiven Wirtschafts- und Bauboom. In zehn bis 20 Jahren sei es auch damit vorbei, sagt Yuan Xin voraus. Nachschub an Babyboomern fehlen für die auf Expansion ausgelegten Kindergärten, Schul- und Universitätsbauten.

Underdogs gehen leer aus

Der Überschuss an Junggesellen ist ein weiterer Nachteil der Bevölkerungsplanung. Das Phänomen der vielen Alleinstehenden als Folge der Geburtenkontrolle nennt China seine "Guanggun Weiji" (Einzelstock-Krise). Soziologen sprechen vom "sozial abgestuften Heiratsengpass". Unter den Betroffenen sind die ärmsten Männer und Underdogs. Sie gehen bei der Brautschau als Verlierer leer aus.

Ihre Probleme, eine Frau zu finden, erschüttern nicht nur die traditionelle "Familienstabilität", sondern entfachten auch eine moralische Krise um Heirat und Familie. Frauenhandel, Kidnapping, Sexualverbrechen und wieder vermehrt arrangierte Heiraten zwischen unterschiedlichen Altersgenerationen nehmen zu.

Die Forscher befürchten langfristige Folgen, wenn dem Trend zu verzerrten Geburtenrelationen nicht Einhalt geboten wird, schreibt Yuan Xin. "Eine Abnahme der Zahl der Frauen führt unweigerlich auch zur Abnahme der Geburtenraten, reduziert den Anteil der Bevölkerung im Arbeitsalter und beschleunigt den Alterungsprozess der Gesellschaft." Mit Gegenmaßnahmen, wie dem Verbot von Ultraschalluntersuchungen, um Schwangerschaften abzubrechen, kamen in der Geburtenrelation 2011 rund 118 Jungen auf 100 Mädchen. Die Zahl ist immer noch Weltrekord.

China ist dabei, die einstige Dividende seiner Bevölkerungsplanung aufzubrauchen. Für eine Nation, die sich auf die Fahnen schreibt, das 21. Jahrhundert zu ihrer Ära zu machen, sind das trübe Aussichten. (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, 30.6.2012)