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Moderne Mama Stachanowa am Arbeitsamt: Vollzeit oder Teilzeit? Schlaflosigkeit oder Schlaftablette? Unterfürsorge oder Über vorsorge? Mehr Arbeit oder weniger Pension? Foto: AP

Foto: ap/Franka Bruns

Auf Wahlplakaten der SPÖ schleppte 1953 ein schwarzer Mann die "Renten von Witwen und Waisen, Alten und Kranken, Invaliden und Kriegsopfern" davon. Ein halbes Jahrhundert später empfahl der Gemeinte - nämlich die ÖVP - "privat vorzusorgen", da das Umlageverfahren auf Dauer nicht finanzierbar sein würde. Die FPÖ ließ sich auf den Konflikt zwischen "Staat" und "Privat" gar nicht erst ein, sondern reimte "Sichere Pensionen statt Asyl-Millionen".

Nach einer kurzen Verschnaufpause des betretenen Schweigens, weil sich die Prognosen im Guten (ein Viertel der staatlich geförderten Garantiefonds ist wegen Kursverlusten "ausgestoppt", das heißt, alle erzielten Renditen sind aufgelöst und die Prämien in Verwaltungskosten aufgegangen) wie im Schlechten (die Mindestsicherung wurde erhöht und ausgeweitet) als unhaltbar erwiesen haben, drehte heuer die SPÖ die nächste Runde im Niveau-Limbo um den sorgenfreien Lebensabend: "Achtung Teilzeit: Halber Lohn, weniger Pension." In bewährter Kanzlermanier "informierten" die SPÖ-Frauen "die Wienerinnen über die Risiken und Nebenwirkungen von Teilzeit-Arbeit." Nach der Überalterung und der Überfremdung war die Überbehütung dran.

Der Nutzen der Beipackzettel von Medikamenten, auf den die Formulierung offensichtlich anspielt, liegt in der besser begründbaren Risikoabwägung. Schlaftablette oder Schlaflosigkeit. Angeblich wussten 70 Prozent der (nicht näher definierten!) Befragten nicht, dass ein geringerer Verdienst auch eine geringere Pensionshöhe bedingt. Sie mussten auf der Homepage der SPÖ-Frauen auch vom rasanten Anstieg der Frauenteilzeitquote informiert werden: "Bereits 44 Prozent der Frauen arbeiten Teilzeit. (...) Die Vergleichswerte aus den vergangenen Jahren zeigen den deutlichen Anstieg: 1985: 16,0 Prozent, 2010: 44,3 Prozent." Das suggeriert, dass 1985 84 Prozent der Frauen Vollzeit gearbeitet hätten, dabei haben sie gar nicht gearbeitet! Die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern ist in den Jahren 1971 bis 2008 von weniger als der Hälfte (44 Prozent) auf drei Viertel gestiegen.

Damit seine Zukunftsbotschaft auch bei denen ankommt, die zu wenig (oder zu viel) von Statistik verstehen, schickte der ÖGB seine Vizepräsidentin Sabine Oberhauser zur Aufklärung in eine ORF-Diskussionsrunde Im Zentrum. Zwei Töchter, beide wohlgeraten, obwohl die Mutter bei der einen drei Jahre und bei der anderen nur neun Monate "zu Hause" war. Was soll man da sagen? Hinge eine an der Nadel, könnte man zweifelsfrei daraus ableiten, ob die Unter- (neun Monate) oder die Überfürsorge (drei Jahre) daran schuld ist. So aber ist es gehupft wie gehatscht, die Frau Oberhauser schläft mit und ohne Tablette gleich gut, sie hat es ausprobiert. Selber schuld, wer da noch Schlaftabletten nimmt oder Teilzeit arbeitet.

Geschult im vernetzten Denken

Geschult im vernetzten Denken, schauen wir uns aber jetzt die Sorge um den frohen Lebensabend aus der Perspektive der Putzfrau an, die in einem Witz gefragt wird, warum sie mit über 60 Jahren noch nicht in Pension sei. Weil sie drei Söhne, allesamt Akademiker, erhalten müsse. Was haben die studiert? Soziologie, Philosophie und Psychologie.

Okay, intellektuellenfeindliche Häme reicht genauso wie die Debatte zwischen Säugehaus (Platon) und Mutterkreuz zurück bis in die Antike, als Xanthippe ihrem Sokrates den Nachttopf über den Kopf leerte, weil er gescheit daherredete statt etwas Vernünftiges zu arbeiten. Jedoch beim einen wie beim anderen Thema haben wir auch heute noch den Scherm auf.

"Und wovon leben Sie?", fragten die Ö1-Mitarbeiter 2008 beim ersten - und letzten - Dossier des Senders mit dem Schwerpunkt "Arbeit". Eine gute Frage, die sich Journalisten mittlerweile selbst öffentlich stellen. Wurde im Ö1-Dossier noch der Zukunftsforscher Matthias Horx mit "transferierbaren Zeitkonten (...), auf denen man Lebensarbeitszeit verschiebt, ansammelt, handelt und in Altersversorgung umwertet", präsentiert, so sind es mittlerweile nackte Zahlen: Vor 30 Jahren wurden umgerechnet 145 Euro Pauschalhonorar für einen Artikel fällig, heute sind es 144 Euro!

Dabei haben die freien Mitarbeiter eines staatlichen Senders noch eine minimale Chance, politisch gehört zu werden. Die selbstständigen Unternehmer, die auf den Zeitungsseiten mit den Stellenanzeigen gesucht werden, sind selber schuld, dass sie keinen angestellten Vollzeitjob haben. Vor 30 Jahren waren externe Universitätslektorate da, um Praktiker aus dem Berufsalltag in die Lehre einzubinden, heute fragen sich Professoren, welche der hochqualifizierten Bewerber sie mit der Vergabe zumindest einige Monate vor dem ökonomischen Totalzusammenbruch retten können. Im Mühlenrad des Wachstums bezweckt der "Erwerb" von Bildung vor allem die Ausweitung des Dienstleistungssektors und produziert gigantische Bildungsmüllhalden.

Dementsprechend fällt das Ansehen von Lehrern aus: Die Herausgeberin Eva Dichand relativierte Im Zentrum ihre Aussage, dass sie sich als Unternehmerin zu Ferienzeiten der Kinder freihalten könne "wie eine Lehrerin", dass sie dafür aber unter der Woche mehr arbeite als eine solche. Egal, welche Kraft es kosten mag, zwanzig bis dreißig Kinder zu motivieren, die Anwesenheitspflicht unter den fetischisierten 40 Stunden pro Woche schürt den Neid. Da verteidigen sich die so Geschmähten schon mal mit einem Hingeworfenen: "Hätten ja auch Lehrer werden können!" Klar! Meier unterrichtet Müller, Müller Huber und Huber wieder Meier. Die letzten Regulierungsreservate (Wochenarbeitszeit, Lehrerkollektivvertrag) müssen in Zeiten der Deregulierung (Ladenöffnungszeit, Preisbindung) umso nachdrücklicher für sakrosankt erklärt werden.

Was könnte in Frauen vorgehen, die im Interview mit der Frauenministerin lesen, dass diese 30 Prozent der in ihrem Dink-Haushalt (Double Income No Kids) anfallenden Arbeiten übernimmt und ihnen zugleich auf Plakaten eine düstere Zukunft prophezeit wird, weil sie das nicht hinkriegen?

Hallo! Frau Minister! Die Post ist an der Börse! Wir leben nicht in der DDR, in der der Staat allen Menschen Vollzeitbeschäftigung garantieren konnte! Und hier geht's mitnichten um eine privilegierte Debatte: Die Frau, die mir einmal pro Woche beim Putzen hilft, tut das mit Gewerbeschein, denn die Firma, in der sie 20 Jahre lang angestellt war, konnte in der aktuellen Wirtschaftslage nur mehr eine geringfügige Beschäftigung anbieten. Wo kann sie sich beschweren, wenn ihre neuen Kunden z. B. nur einen Euro pro Stunde zahlen?

Heldin der Arbeit

Doch beziehen wir uns endlich auf den Titel: In der ehemaligen Sowjetunion begann die Kampagne des sozialistischen Wettbewerbs, nachdem Alexei Grigorjewitsch Stachanow im August 1935 mit 102 Tonnen Kohle in einer Schicht die Arbeitsnorm um ein Vielfaches übererfüllt hatte. Mitunter trieb die Kampagne skurrile Blüten, als sich zum Beispiel die Dentisten zur Übererfüllung des Plansolls im Zähneziehen verpflichteten. Stachanow, Held der Arbeit, verfiel dem Alkohol und starb 1977 in einer Nervenheilanstalt. Womit wir beim dritten Problem der Panikmache wären.

"Nie wieder Selbstmorde" stand im April auf den Transparenten des Fackelzugs zum römischen Pantheon-Platz, und das war keine Forderung an die Verblichenen. Die schöne neue Arbeitswelt verlangt buchstäblich Blutzoll. In Österreich hat sich die Anzahl der Neuzugänge in die Invaliditätspension aufgrund psychischer Erkrankungen gemäß der Auskunft des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie seit den 1990er-Jahren fast verdreifacht. Und da Invaliditätspensionen für gewöhnlich niedriger ausfällt als reguläre Alterspensionen, ist auch hier eine Informationskampagne angebracht. Der ÖBVP sieht "die rechtzeitige Psychotherapie als große Chance, dem Negativtrend entgegenzuwirken".

Nichts gegen außerfamiliäre Kinderbetreuung, nichts gegen Psychotherapie, nichts gegen Bildung, aber nicht einmal alle drei Ausweitungsprogramme für den Dienstleistungssektor zusammen werden die ineinander verschränkten wirtschaftlichen und politischen Probleme lösen können.

Wie der sprichwörtliche Macho, der seine neue Flamme fragt, "Passiert dir das öfter?", als er keinen hochkriegt, versucht eine zunehmend impotente Politik mit Scheingefechten über adäquate Kinderbetreuung von ihrem Scheitern an der gerechten Verteilung von Zukunftsperspektiven abzulenken. (Christa Nebenführ, Album, DER STANDARD, 30.6./1.7.2012)