Das Glück ist bekanntlich ein Vogerl. Manchmal ist Glück auch ein Spiel. Ein kleines oder ein großes Spiel. Wenn man Pech hat, manifestiert sich dieses kleine Glück als Wettcafé und Minikasino schwammerlartig überall dort, wo kleine Greißler, Buchläden und andere Geschäfte eingehen. So wandeln sich manche Straßenzüge von Bezirksgrätzeln zu Bezirksgrauseln. Der Siebenbrunnenplatz wird von Lokalen umzingelt, in denen man sein Spiel versuchen und sein Geld verlieren kann. Frei nach Dostojewskis Der Spieler: "Ich weiß genau, wie es geht. Man muss nur das System durchschauen."

Das System durchschauen, das ist ein an und für sich großartiger Einfall, nur die Umsetzung hinkt ein wenig. Ich durchschaue das System des Schuhmarktes und seiner verderbten Verlockungen verlässlichst ein ums andere Mal. Halbjährlich durchschaue ich. Ich öffne die Schuhschränke, betrachte erst den hervorbrechenden Hokusai-Schuhtsunami aufmerksam, dann die neuen Kollektionen.

Sinniere über den Einfluss der Politik auf das Design. Die Aussagekraft verschiedener Absatzhöhen. Die Philosophie dahinter. Herrenschnürer oder Schlapfen. Bleistiftabsatz oder Trampelblock. Überlege mir die Vorteile und die Nachteile des Produktionsstandorts. Spanische Schuhe waren zum Beispiel bis vor kurzem im Durchschnitt aus bestem Leder gefertigt. Eine gute Handarbeit. Originell. Seit Spanien von der Krise gebeutelt wird, ist das auch an der Schuhproduktion nicht spurlos vor übergegangen. Camper wird mittlerweile in China gefertigt und sieht auch so aus.

Jedes Mal, wenn ich die neuen Modelle anprobiere, flutet mich eine zumindest leise Ahnung von bandagierten Krüppelfüßchen. Die Sohle ist nun geklebtes Plastik und der Preis immer noch der eines gutgearbeiteten Lederschuhs. Ich sinniere also über dieses böse System und kaufe mir anschließend wieder drei unnötige, aber dringend gebrauchte Schuhpaare. Spaniens Wanken setzt sich quasi an den Füßen fort. Und wenn wir schon bei den Füßen sind: Auch der Käse ist nicht mehr das, was er mal war. In Italien häufen sich die Lebensmittelskandale. In Ungarn Umweltkatastrophen. Die Gier steigt allerorten. Die Luft wird knapp. Mozzarella ist dioxinbelastet, Parmesan öfter Gammelkäse, ein südliches Pendant zum deutschen Gammelfleisch.

Die Schuhe hingegen sind dort immer noch ganz in Ordnung, was ich mit gewissenhaften Stichproben in Venedig testen muss. Das Durchschauen des Systems ist wie die streng ausgelegte klassische Analyse: Man erkennt es. Aber man kann es kaum ändern. Aber vielleicht ist dies auch das einzigartige Vogerlglück mit den Schuhen: Den Magen verdorben hat sich damit noch keiner. Vorläufig. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 30.6./1.7.2012)