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Die Insel ist das Ort gewordene Ideal der Selbstverwirklichung. Doch es ist mehr die Fiktion als die Realität, aus der sich unser Inselmythos speist.

Foto: apa / DPA / DB Ehlers

Nachdem sie den Winterstürmen Europas entronnen waren, trotzte Kapitän Louis Antoine de Bougainville mit seinen tapferen Seemännern Wind und Wetter. Was sie antrieb, war die Sehnsucht nach der Südsee. Sonne, Strände, Schätze. Dann endlich, Anfang April 1768 sahen sie Land. Vor der Ostküste Tahitis setzten die Abenteurer ihre Anker - und schienen das Paradies auf Erden gefunden zu haben.

"Die meisten der Nymphen waren nackt", notierte der Kommandant später in sein Logbuch und fügte süffisant hinzu: "Man kann sich vorstellen, wie schwer es angesichts eines solchen Schauspiels fiel, 400 junge französische Seeleute zu bändigen." Die Erzählungen vom Luxusleben auf der Insel befeuerten auch den Entdeckergeist anderer Schiffsleute. James Cook umsegelte die Welt und berichtete begeistert von seinen Erfahrungen auf hoher See.

Heute ist die Welt in all ihren Winkeln ausgeleuchtet. Über Google Maps können wir Destinationen in Augenschein nehmen, Hotels begutachten und jedes einzelne Sandkorn inspizieren. Trotzdem ergreift uns Sehnsucht nach einsamen Eilanden. Die Insel ist ein Fluchtpunkt der Freiheit; das Ort gewordene Ideal der Selbstverwirklichung.

Der englische Schriftsteller Daniel Defoe brachte in seinem berühmten Roman "Robinson Crusoe" den explorativen Charme der Insel plastisch zum Ausdruck. Es geht um den Versuch, als Solist das Wilde und Urwüchsige der Natur zu bändigen. Dieses Motiv war immer wieder Gegenstand von gesellschaftlichen und literarischen Abhandlungen. In seinem Roman "Utopia" versuchte der englische Humanist Thomas Morus das individuelle Streben zu vergemeinschaften und einem kommunitaristischen Zweck zuzuführen.

Morus entwarf eine fiktive, anonyme Gesellschaft, die durch gemeinsame Güterproduktion und Gesetzgebung die höchste Form des Glücks erreicht. Ohne Privatbesitz keine Gewalt. Ein Leben in Frieden. Der französische Schriftsteller Denis Diderot ließ sich von der utopistischen Weltanschauung leiten und stilisierte Tahiti zu einem Modell körperlicher und geistiger Freiheit.

Reinheit und Ruhe

Und noch immer beflügeln uns derlei Fantasien. Die Insel stellt eine Form der Unberührtheit und Ursprünglichkeit dar. Klar, dieses Bild idealisiert und verklärt zuweilen. Dennoch laben wir uns daran und nähren unser Bedürfnis nach Reinheit und Ruhe. Hier verschmelzen Sinneseindrücke zu einem romantischen Topos.

Eiland, das heißt vor allem: Entschleunigung. Es ist der Gegenentwurf zum wuseligen Großstadttreiben. Doch die Insel ist auch ein Ort der Endlichkeit; die Entfaltungsmöglichkeiten sind beschränkt. Irgendwann hat man sich an den schönen Bildern sattgesehen, der Alltag wird monoton, öde. Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Houellebecq zeichnet in "Die Möglichkeiten einer Insel" ein düsteres Bild des Inseldaseins.

Daniel, der Held der Geschichte, muss sich mit den Unwägbarkeiten und Lasten des Insellebens auseinandersetzen. Es ist ein hoffnungsloser, rauer Individualismus, der in Einsamkeit und Tristesse endet. Ungezügelter Freiheit wohnt stets die Gefahr des Exzesses inne. Es ist somit mehr die Fiktion als die Realität, aus der sich unser Inselmythos speist.

Das pittoreske, paradiesische Leben ist Illusion. Klimawandel, Massentourismus, Umweltverschmutzung - auch die Inselwelt ist verletzlich geworden. Wir sind uns der Gefahr gewahr. Darum flüchten wir uns in eine Fantasiewelt, in der Probleme romantisiert werden und sich das Dilemma des Eingeschlossenseins wie von Zauberhand auflöst.

Bougainville nannte sein Eiland übrigens schwärmerisch "Nouvelle Cythère". Die Liebesgöttin Aphrodite soll der Sage nach auf der griechischen Insel Cythera gestrandet sein. Nach dem kurzweiligen Liebes- und Lotterleben brach die Mannschaft wieder auf - und geriet in arge Nöte. Der Proviant war aufgezehrt, die ausgemergelten Seefahrer wurden von Skorbut dahingerafft, Ratten vermehrten sich auf dem Schiff. Bougainvilles Abenteuer endete im Fiasko. Der süße Traum der Südsee zerschellte an der rauen Realität. (Adrian Lobe, DER STANDARD, 29.6.2012)