Verschollen und wiedergefunden: Ai Weiwei an seinem Schreibtisch.

Foto: Johnny Erling

"Ab 22. Juni wieder auf freiem Fuß?" So wird in Berlin der Dokumentarfilm über Ai Weiwei, "Never Sorry", beworben, der derzeit auch im Wiener Gartenbau-Kino zu sehen ist. Wie als Antwort darauf trägt Ai 10.000 Kilometer entfernt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Missing - Found". Verschollen und wiedergefunden: "Aber auf wirklich freiem Fuß bin ich noch nicht", sagt er.

Vergangene Woche teilte ihm die Polizei seine Entlassung in den Stand eines wieder freien Bürgers mit. Allerdings sei der Fall noch nicht abgeschlossen, er dürfe daher nicht ins Ausland reisen. Es würde weiter gegen ihn ermittelt wegen Verbreitung von Pornografie, Bigamie und unerlaubten Währungsgeschäften. "Sie warnten mich, mit Medien zu sprechen oder mich online zu äußern." Im Februar hatten ihm die Behörden gesagt, dass er am Ende des Kautionsjahres Pass und beschlagnahmte Computer zurückbekommt. "Nichts davon ist passiert." Die Pläne des 55-Jährigen, Ausstellungen - im Juli in England und im Oktober in Washington - zu eröffnen und im Herbst eine Gastdozentur an der Universität der Künste in Berlin anzutreten, haben sich vorerst zerschlagen.

Formal hat er nach einem Jahr der Verfolgung, die im April 2011 mit Kidnapping und anschließenden 81 Tagen willkürlicher Polizeihaft begann und nach seiner Entlassung mit Hausarrest unter strengen Bewährungsauflagen endete, die bürgerlichen Rechte zurückerhalten. Er braucht sich nun nicht mehr polizeilich zu melden, kann treffen, wen er will, und sich innerhalb Chinas frei bewegen. "Als ich verschleppt wurde, warfen sie mir als Erstes Gefährdung der Staatssicherheit vor. Dann schwenkten sie zum Vorwurf der Steuerhinterziehung über. Ich fürchtete, für mehr als zehn Jahre in Haft zu verschwinden." Dass es dazu nicht kam, habe er internationalen Protesten zu verdanken.

Er habe gehört, dass sich sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Ende August auf Regierungsbesuch nach Peking kommt, für ihn eingesetzt hat: "Ich würde sie sehr gerne treffen." Er habe wieder die Freiheit, "sich bei allen, die sich für mich einsetzten, persönlich zu bedanken. Jetzt ist der Zeitpunkt dazu da."

Doch die Schikanen gegen den unbequemen Bürgerrechtler halten an. Vor seinem Atelier parken auch am Wochenende Fahrzeuge der Staatssicherheit. Mehr als ein Dutzend Videokameras zeichnen rund um die Uhr auf, wer bei ihm ein- und ausgeht: "Unlängst fuhren bei uns 40 Polizeiwagen umher." Es war der Tag, an dem das Bezirksgericht Chaoyang über eine Klage seiner Frau Lu Qing und ihrer Anwälte gegen das Pekinger Steueramt beriet. Dies hätte mit seinem Bußgeld über umgerechnet 15 Millionen Yuan (1,9 Mio. Euro) gegen Ais Künstleragentur Fake widerrechtlich gehandelt. Der Vorwurf der angeblichen Steuerhinterziehung sei falsch. Die Polizei hindert Ai, am Verfahren teilzunehmen. Dies ist nur seiner Frau, drei Anwälten als Vertreter der beklagten Agentur sowie fünf Bürgern als Vertreter der Öffentlichkeit erlaubt.

Die neunstündige Verhandlung endet ohne Urteil. Das Gericht will am 30. Juni entscheiden. Gegen Ai hingegen wird weiterhin ermittelt: Ein 2010 gemachtes Foto zeigt ihn inmitten von vier nackten Frauen und gilt als pornografisch. Es wurde im Internet mehr als tausendmal heruntergeladen, was den Strafbestand "Verbreitung von Pornografie" erfülle. Weiters wird ihm Bigamie vorgeworfen, weil Ai einen unehelichen dreijährigen Sohn mit einer Freundin hat.

Interne Bestimmungen

Der dritte Vorwurf bezieht sich auf eine Gruppe ausländischer Architekten, die auf Ais Einladung mit ihm 2008 an seinem Architekturprojekt mitarbeiteten.

Er half ihnen, ihr Salär in Devisen zu bekommen, und ließ sich seine Auslagen in chinesischem Geld zurückerstatten. Damit hätte er gegen Devisengesetze verstoßen, ungeachtet, ob er sich bereichern wollte oder nicht. Auf Ais Frage, aufgrund welcher gesetzlichen Grundlage er beschuldigt würde, habe ihm die Polizei geantwortet: nach ihren internen Bestimmungen. Einsehen dürfe er diese nicht. In China triumphiere Macht über Recht und Gesetz. Die herbeigesuchten Vorwürfe verrieten aber, wie verunsichert Regierung und Behörden sind.

"Warum eigentlich?", fragt Ai. "Sie haben 80 Millionen Parteimitglieder hinter sich, stützen sich auf gewaltige Bürokratien und schießen Raumschiffe ins Weltall. Aber sie können nicht einmal die Rechte eines einzelnen Bürgers garantieren." (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 28.6.2012)