"‘E Feste a mmare"

Foto: www.napoliteatrofestival.it

Pausilypon

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"Museo delle Utopie"

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"La casa morta"

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"La Omisión de la Familia Coleman"

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"Pasolini Plauto Il Vantone"

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Pausilypon/Tunnel

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Zu Fuß durch einen einen Kilometer langen, 2.000 Jahre alten Römertunnel gehen, nur um zu einem Theater zu gelangen? Steht sich das dafür? Wenn am Ende des steinernen Schlauchs so ein kleines Weltwunder wartet wie der archäologische Park von Pausilypon (zu Deutsch: Pause der Sorgen): ja, auf alle Fälle - auch wenn Klaustrophobikern von einem Besuch dringend abgeraten werden muss.

Das Napoli Teatro Festival hat in den fünf Jahren seines Bestehens schon viele Orte wieder zugänglich gemacht, die selbst Einheimischen unbekannt waren: das Theater des Nero, das Königliche Armenasyl, die Dächer der Akademie der bildenden Künste, die Katakomben des San Gennaro und, und, und.

Aber die heurige Entdeckung stellt die bisherigen fast in den Schatten: Neben Tempel- und Villenresten sowie einem kleinen Odeon befindet sich auf diesem Felsvorsprung über dem Meer eben auch ein (offenbar durch seine geschützte Lage) fast intakt erhaltenes Amphitheater für 200 Personen - dessen Akustik der seiner berühmteren Pendants in Syrakus und Epidauros in nichts nachsteht. Und dessen Zauber man sich selbst dann nicht entziehen kann, wenn die Qualität der dargebotenen Aufführungen nicht ganz mit der Qualität und vor allem der Einzigartigkeit der Kulisse mithalten kann.

Denn die "Ifigenia in Aulide" in der Fassung von Mircea Eliade war unnötig verblödelt, Plautus' "Miles gloriosus" in der Version Pier Paolo Pasolinis allzu sehr als Drag-Show angelegt, die Elsa-Morante-Lesung im Odeon eben doch nur eine Lesung und die Installation/Performance "Il Museo delle Utopie" ("Das Museum der Utopien") in besagtem Tunnel eher als Materialsammlung interessant. (Obwohl die Szenen mit dem singenden Mao und Karl Marx als Gast in einem "idealen" Bordell durchaus ihren Reiz hatten).

Ähnlich widersprüchliche Gefühle überfielen einen auch am Molo Cappellini. Wieder ein ungewöhnlicher und sonst eigentlich unzugänglicher Spielort: eine Bucht der Halbinsel Nisida, die man normalerweise nicht betreten darf, weil sie ein Hochsicherheitsgefängnis für jugendliche Straftäter beherbergt. Von der sich aber - vor allem bei Sonnenuntergang - ein atemberaubender Rundblick auf Procida und Ischia bietet.

Antonella Monettis "'E Feste a Mare"-Produktion hatte nicht annähernd diesen Effekt, trotz schöner Momente wie beleuchteten Booten im Hafenbecken. Aber immerhin bekam man ein umfangreiches Potpourri an Liedern und Szenen des genialen, aber mittlerweile wenig gespielten neapolitanischen Theaterautors Raffaele Viviani (in unseren Breiten maximal durch Christoph Marthalers "10 Gebote"-Inszenierung bekannt) vorgesetzt. Und dadurch bereits Lust auf nächstes Jahr, wenn Robert Wilson Vivianis Zirkusstück "Circo equestro Squeglia" in Neapel inszenieren soll.

Die anderen Schwerpunkte des Festivals (in erster Linie der Fokus Argentinien mit Mini-Retrospektiven der Neo-Boulevard-Regisseure und Autoren Daniel Veronese und Claudio Tolcachir, aber auch der Showcase des israelianischen Tanzes sowie das Spotlight auf neue italienische Stücke) fanden zumeist in traditionellen Theatern (San Ferdinando, Mercadante, Politeama) bzw. Off-Theater-Tempeln (Nuovo Teatro Nuovo, Galleria Toledo) statt.

Bei "Angelo della Casa" ("Der Engel des Hauses"), einem Abend über Emily Dickinson, lernte man dann hingegen noch den sehr beeindruckenden Botanischen Garten mit seinen prachtvollen Gewächshäusern kennen und bei "Napoli.Interno.Giorno." ("Neapel.Innen.Tags.") gleich fast die ganze neapolitanische Altstadt.

30 Zuschauer begleiten "zwei Doctores", einen Grätzlarzt und seinen Substituten, von der "Praxis" aus auf einem Rundgang durch das Viertel, betreten fremde Palazzi, hochherrschaftliche Zimmerfluchten, gutbürgerliche Wohnungen und abgefuckte Erdgeschoßlöcher, werden Zeugen der Aufbahrung eines Toten, machen Bekanntschaft mit der untröstlichen, aber anlassigen Witwe und ihrem neomelodische Lieder singenden Sohn, treffen auf eine unter Hausarrest stehende Camorra-Braut im Negligé, die ein Gspusi mit ihrem Bewacher unterhält, werden auf der Straße von aufdringlichen Sockenverkäufern belästigt und von tätowierten Nutten beschimpft, um schließlich die Not-Niederkunft eines weissrussischen Dienstmädchens zu erleben, während man selbst an einer großen Tafel Pasta con Ragu' verspeist.

Exzellente Schauspieler, witzige Texte, tolles Timing, gutes Essen. Eine Art Einführungsvorlesung, eine Full Immersion in (Un-)Sitten und Gebräuche der chaotischen Stadt unter dem Vesuv, bei der sich die Grenzen zwischen Theater und "Wirklichkeit" (Gehört die keppelnde Alte hinter dem vergitterten Fenster jetzt dazu oder nicht?) immer mehr verschieben und aufheben. Man sollte "Napoli.Interno.Giorno." fast zum Pflichtprogramm für jeden Neapel-Besucher machen. (Robert Quitta, derStandard.at, 27.6.2012)