Der russische Schriftsteller und Publizist Wiktor Jerofejew prägte kürzlich einen treffenden Begriff für das System des zum Zaren gewordenen Putin: Statt eines Dialogs mit der Opposition werde er sich bemühen, "den Anschein eines Zweiparteiensystems zu erzeugen. Seine dritte Amtszeit wird überhaupt aus Anschein bestehen: Anschein der Modernisierung, der Zusammenarbeit mit dem Westen, der Lösung sozialer Probleme."

Diesen Eindruck gewannen fast alle westlichen Beobachter, die die Versprechungen Präsident Wladimir Putins über umfangreiche Wirtschaftsreformen am internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg vor einigen Tagen gehört hatten. Das Ziel seiner im Mai begonnen habenden dritten Präsidentschaft sei es, bestmögliche Rahmenbedingungen für Investoren zu schaffen, die Bürokratie abzubauen und die Korruption zu bekämpfen. Unter anderem werde ein Privatisierungsplan umgesetzt und ein Ombudsmann zur Verteidigung der Unternehmen ernannt.

Die Beteuerungen von Kontinuität und Verlässlichkeit von politischen Entscheiden dürften allerdings wirkungslos bleiben. Die meisten ausländischen Geschäftsleute würden wahrscheinlich der Diagnose des Chefökonomen einer großen internationalen Kapitalgesellschaft, Marcus Swedberg, zustimmen: Das größte Problem für Investoren sei der russische Staat selbst! Putin versucht statt konkreter Pläne durch nebulose Ankündigungen Auslandsinvestoren zu ködern: Er wolle noch in diesem Jahrzehnt Russland auf dem Weltbank-"Geschäftsklima-Index" von Platz 120 (von 183 Ländern) auf Platz 20 hieven! Dazu bedürfte es aber eines großangelegten Umbaus der Verwaltung und einer rücksichtlosen Abrechnung mit der Korruption in den Beamtenstuben. Laut dem verlässlichen Transparency Index liegt Russland gleichauf mit Togo und Uganda an 143. Stelle unter 182 untersuchten Staaten.

Nach der chaotischen Regierungszeit von Boris Jelzin galt der bescheiden wirkende KGB-Offizier als Retter in der Not, als Garant für Ruhe und Ordnung. Wenn man heute bei der offiziellen Website der russischen Regierung auf Putin klickt, wird ein Album mit 297 offiziellen Porträts Putins präsentiert. Sein Machtkartell ist entschlossen, falls nötig, mit einer verschärften Gangart die Macht im Inneren abzusichern und sich zugleich vom Westen abzuschotten. Selbst viele seiner einstigen Mitarbeiter stimmen Jerofejew zu, dass sich das reiche Land in einer lebensgefährlichen Stagnation befinde. Der Schriftsteller fabuliert von einer Revolution und weist darauf hin, dass Lenin noch 1916 nicht daran geglaubt hat, dass sie vor der Tür steht.

Die meisten Russen, auch die Angehörigen der Mittelklasse, träumen freilich nicht von einer Revolution, sondern von einem wirtschaftlichen Aufschwung, von Mitsprache in der Politik und Transparenz in der Verwaltung. Ob das weitverbreitete Unbehagen auch in der Provinz in offene Proteste umschlagen wird, hängt vom schwankenden Rohölpreis ab. Dieser unberechenbare Faktor stellt nämlich nach wie vor die größte Gefahr für die Zukunft des vom Energieexport abhängigen Landes und damit auch für die Absicherung der Macht des neuen Zaren dar. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 26.06.2012)