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Pirlo ist Weltmeister, Champions-League-Sieger, Klub-WM-Champ und hat alle möglichen Trophäen in Italien abgeräumt - nur den EM-Pokal durfte er bislang noch nicht in Händen halten.

Foto: EPA/ARMANDO BABANI

Kiew - Andrea Pirlo sieht müde aus. Seine langen Haare sind zottelig geworden, in sein Gesicht haben sich tiefe Falten geschlichen, unter seinen Augen hängen Tränensäcke - doch den wachen Blick für die Mitspieler hat er noch nicht verloren. Der 33-Jährige ist Taktgeber der italienischen Mannschaft bei der EM, ihr Dirigent und Kompass, die Seele ihres Spiels. "Er entwickelt im Bruchteil einer Sekunde großartige Ideen und kann damit Spiele entscheiden", sagt der englische Teammanager Roy Hodgson vor dem Viertelfinale gegen Italien am Sonntag in Kiew.

Dabei wollten sie den alternden "Architekten", wie sie Pirlo in der Heimat nennen, schon ins betreute Wohnen schicken. Der AC Mailand jagte ihn vor einem Jahr vom Hof, "weil sie dachten, ich sei fertig", wie sich Pirlo erinnert. "Es war die "schlimmste Fehleinschätzung, seit Real Madrid Claude Makelele abgab, um Platz für David Beckham zu schaffen", schreibt der Guardian. Pirlo kam bei Juventus Turin unter, und der "alte Mann" führte die "alte Dame" mit starken Leistungen zum ersten Scudetto seit 2006 - vor Milan. Die Journalisten wählten Pirlo, den besten Vorlagengeber der Serie A, zum Spieler der Saison.

"Pirlo macht den Unterschied"

"Ich bin immer noch hier", sagt Pirlo mit einiger Genugtuung. Und wie er da ist. Bei der EM war er an drei der vier Tore Italiens direkt beteiligt: Beim 1:1 gegen Titelverteidiger Spanien bereitete er das Tor von Antonio Di Natale mit der Akkuratesse eines Chirurgen vor. Das Unentschieden gegen die Kroaten (1:1) sicherte er mit einem Traumtor per Freistoß, beim 2:0 gegen Irland gab er die Vorlage zum 1:0 durch Antonio Cassano. "Pirlo macht den Unterschied", sagt der frühere englische Teammanager Fabio Capello, für Teamkollege Daniele De Rossi ist "Andrea einer der größten Mittelfeldspieler der Geschichte".

Und ein stilbildender noch dazu. Der "Regista" (dt. etwa: Regisseur) holt bei Angriffen der Azzurri den Ball häufig tief in der eigenen Hälfte ab. Dann treibt er ihn ein paar Meter über den Platz, hebt den Blick - und spielt einen seiner Zauberpässe. Im American Football würde man einen Spieler wie Pirlo den "Quarterback" nennen - mit dem Unterschied, dass Pirlo auch in der Defensive aushilft. So bietet er Trainer Cesare Prandelli die Möglichkeit, im ständigen Wechsel zwischen dem defensiven 5-3-2 und dem offensiven 3-5-2 den Gegner zu verwirren. Selbst Spanien hatte damit zum EM-Auftakt große Probleme.

"Pirlo ist mehr als die halbe Squadra"

"Ich bin in der Form meines Lebens", sagte Pirlo vor EM-Beginn - bislang hat er das eindrucksvoll bestätigt. "Pirlo ist mehr als die halbe Squadra", kommentiert die Gazzetta dello Sport. Als der angeschlagene Pirlo bei der WM 2010 in den ersten beiden Spielen nicht auflaufen konnte, blamierte sich der Titelverteidiger mit zwei Unentschieden gegen Paraguay und Neuseeland. Das Aus beim 2:3 im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei konnte Pirlo, noch immer nicht in Bestform, bei seinem 34-minütigen Kurzeinsatz nicht mehr verhindern.

Für Juve ist er genauso unersetzlich. 41 Spiele hat er in dieser Saison für die Bianconeri bestritten, alle von Beginn an. Zweimal wurde er ausgewechselt, einmal in der 80., einmal in der 87. Minute. "Ich habe immer daran geglaubt, die Nummer eins zu sein, und denke, dass ich das demonstriert habe", sagt er.

Die Zweifler hat er eines Besseren belehrt, sich selbst will er es dennoch noch einmal beweisen. Pirlo ist Weltmeister, gewann die Champions League, die Klub-WM, alle möglichen Trophäen in Italien - nur den EM-Pokal durfte er noch nicht in Händen halten. "Italien hat eine große innere Stärke und kann weit kommen. Wir haben alles, um zu gewinnen", sagt er. Vor allem haben sie: Pirlo. (sid, 22.6.2012)