Richard Kriesche: "Anything doesn't go anymore".

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Reaktion auf einen Befund von Andrea Schurian ("Documenta der Kuratorenkunst").

In Summe spiegeln die meisten Documenta-Rezensionen wider, was über die letzten Jahre "State of the Art" der Kunstkritik war: das Bemühen, ihre Meinungsfreiheit über das zu setzen, was Kunstkritik zuallererst zu hinterfragen hätte - die Kunst, die Ausstellung, etc. Damit nicht genug: diese absolut gesetzte und damit desorientierende Meinungsfreiheit hat im Kuratorenwesen ihre instrumentelle Fortsetzung gefunden. Kunst war nach der meinungsfreien zu einer verschiebefreien Masse aus Kunstwerken und Künstlern geworden.

Erfolgreich war diese in Szene gesetzte Entwicklung insoferne, weil sie die von den Kunstkritikern bzw. Kunstkuratoren in Anspruch genommene Meinungsfreiheit jedermann/frau und damit zugleich dem eigentlichem Zielpublikum, den Kapitalgebern für Kunst, lückenlos zugestanden werden konnte und somit einen vollkommen neuen Markt - den wohl bisher größten: den der Meinung - beliefern konnte.

Dass damit die eigene Profession der Kritik und Kuratierung für obsolet hätte erklärt werden müssen, entspräche der konzeptionellen Logik. Doch dazu fehlt aus existenzieller Logik die Bereitschaft. Statt dessen führen uns die "Documentakunstkritiken" aus einer schier unübersehbaren künstlerischen Verschiebemasse in der Karlsaue, dem Fridericianum etc. persönliche Lieblingsstücke bzw. Lieblingskonstellationen als Versatzstücke einer ausstehenden Ausstellungskritik vor. Damit hat der Status einer absolut gesetzten Meinungsfreiheit nicht nur die Documenta erreicht, sondern in ihr ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.

Die Auswahl aus einer weltweit zur Verfügung stehenden, künstlerischen Verschiebemasse begründet sich aus der Meinungsfreiheit der diesjährigen Documentakuratorin. Insofern wird die diesjährige Documenta die wohl bedeutsamste Kunstausstellung über die kommenden Jahre bleiben, weil es ihr gelungen ist, die von Kunstkritikern und Kunstkuratoren propagierte und absolut gesetzte Meinungsfreiheit über Kunst mit dem "Konzept der Konzeptfreiheit" - frei nach Christov-Barkagiev, Kuratorin der documanta 13 - zur Deckung gebracht zu haben.

Dass damit der diesjährigen Documenta zusätzlich noch das Verdienst zufällt, dass Kritiker und Kuratoren ihre Profession grundlegend zu überdenken haben werden, wird nicht mehr ausbleiben können, denn "anything doesn't go anymore". In diesem Sinne gratuliere ich Andrea Schurian zu ihrer klaren Analyse ("Documenta der Kuratorenkunst"), weil diese nicht allein die Documenta, sondern wesentlich weitreichender das Zu-Werke-gehen eines irrlichternden, geschichtsvergessenen, kunstbetrieblichen Zeitgeistes erfasst hat. (Richard Kriesche, DER STANDARD, 22.6.2012)