"Bild" lässt Ex-"Spiegel"-Chef Stefan Aust seine Geschichte erzählen. Zum 60er will "Bild" 40 Millionen Exemplare gratis verteilen.

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STANDARD: "Bild" wird am 24. Juni 60 Jahre alt. Gratulieren Sie?

Niggemeier: Es ist respektabel, dass "Bild" immer noch profitabel und Geldmaschine des Springer-Verlags ist. Die Auflage sank in den vergangenen Jahren ja dramatisch von mehr als fünf auf unter drei Millionen. Aber sonst sehe ich keinen Anlass zum Feiern.

STANDARD: Wollen Sie mit Ihrem Bildblog, der die Berichterstattung des Springer-Blattes seit dem Jahr 2004 kritisch begleitet, "Bild" eigentlich verändern?

Niggemeier: Nein, das konnten wir uns nie vorstellen. Aber die Auseinandersetzung lohnt sich, weil wir dazu beitragen können, dass "Bild" von Lesern kritischer gesehen wird. Viele meinen ja, sie wollten sich durch die Lektüre der Zeitung einfach nur unterhalten lassen. Aber das funktioniert bei dieser Art von Journalismus nicht. Besser wäre es, "Bild" überhaupt nicht zu lesen.

STANDARD: Was stört Sie an "Bild"? Boulevardzeitungen sind doch Teil der Medienlandschaft.

Niggemeier: Natürlich ist Boulevard per se nicht das Problem. Ein Blatt kann seine Geschichten durchaus unterhaltsam und emotional zuspitzen. "Bild" allerdings macht schmutzigen Boulevard.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Niggemeier: Persönlichkeitsrechte werden mit Füßen getreten. Ich erlebe das gerade in meinem eigenen Bekanntenkreis. Opfer eines schweren Autounfalls wurden ohne ihre Einwilligung im Krankenhaus fotografiert, die Fotos veröffentlicht. Jemanden bloßzustellen ist bei "Bild" Methode. Viele Betroffene haben gar nicht die Kraft, sich zu wehren.

STANDARD: Andererseits ist "Bild" eines der am meisten zitierten Medien in Deutschland und bekommt Interviews von hochrangigen Politikern aus aller Welt.

Niggemeier: Das ist ja dieser absurde Spagat. Einerseits wühlt man dort tief im Schlamm, andererseits gibt man sich seriös. Das war Chefredakteur Kai Diekmann ja in der Affäre um den Exbundespräsidenten Christian Wulff ganz wichtig.

STANDARD: Der Henri-Nannen-Preis für die beste investigative Leistung - die Wulff-Recherche also - wurde im Springer-Verlag sehr gefeiert.

Niggemeier: Es ist dort auch nicht jeder Artikel unseriös. Die Versöhnung mit Israel, die auf "Bild"-Gründer Axel Cäsar Springer zurückgeht, ist grundsätzlich eine gute Sache. Allerdings ist die Israel-Berichterstattung dann schon wieder so einseitig, dass einem ganz mulmig wird.

STANDARD: Wie viel politische Macht hat "Bild"?

Niggemeier: Nicht jede Kampagne gegen Politiker geht auf. Viele Politiker, gegen die "Bild" Stimmung machte, sind immer noch im Amt. Aber "Bild" hat schon die Macht, Themen zu setzen und zu prägen. Wenn elf Millionen Leser monatelang in Bild von den "Pleitegriechen" lesen, dann vergiftet das die Debatte.

STANDARD: Während der 68er-Studentenproteste war das Blatt Feindbild der Linken. Warum sind die ideologischen Fronten heute nicht mehr so verhärtet?

Niggemeier: Natürlich tendiert "Bild" auch heute noch zu den Konservativen. Aber es herrscht größerer Pragmatismus. Entscheidend ist, ob jemand kooperiert und gute Geschichten liefert, die Schlagzeilen machen. (Birgit Baumann, DER STANDARD, 21.6.2012)