Samaras hält die radikale Linke in Schach". Mit einer lapidaren Schlagzeile brachte die Presse auf den politischen Punkt, was unter anderem der österreichische Bundeskanzler in europäischen Weihrauch hüllte. Nicht für oder gegen Europa wurde vergangenes Wochenende in Griechenland abgestimmt, sondern ob dessen Weg nach rechts oder links führt. So viel stimmt allerdings: das gesamte europäische Establishment, die Chefin des IWF, die deutsche Kanzlerin, sogar die Redakteure der deutschen Financial Times hatten die griechischen Wähler vor Syriza gewarnt.

Ihre Freude über das Wahlergebnis dürfte allerdings von kurzer Dauer sein. "Es gibt Niederlagen, die Siege sind, und Siege verhängnisvoller als Niederlagen", schrieb Karl Liebknecht 1919. Nicht nur, weil Syriza, sich innerhalb von drei Jahren von 4,6 Prozent auf 27 Prozent vervielfachte, und somit die einzige wirkliche Wahlsiegerin ist, sondern weil es nicht lange dauern wird, bis sich die tatsächlichen sozialen Kräfteverhältnisse wieder zu Wort melden werden. Konservative und Sozialdemokraten mögen unter heftigem Druck von außen und großer Mühe im Innern eine knappe parlamentarische Mehrheit mithilfe der bizarren 50 Bonusmandate zustande zusammenbekommen. Daran, dass sie nur eine Minderheit in der Bevölkerung repräsentieren, ändert sich nichts.

Das griechische Volk hat die Parteien links der Sozialdemokratie, Syriza, Demokratische Linke und KP mit gemeinsam rund 37 Prozent zum stärksten politischen Block im Parlament gemacht. Syriza wird als Hauptkraft der Opposition die Geschicke des Landes und Europas in hohem Ausmaß mitbestimmen.

Dafür übrigens, dass am Abend des Wahlsonntags keine Mehrheit für eine Linksregierung in Athen zustande kam, können Merkel, Barroso und Lagarde sich bei der unverdrossen stalinistischen KP-Griechenlands bedanken, die eine politische Kooperation mit anderen Linkskräften ausschließt. So kann die traditionsreiche KKE trotz dramatischem Wählerschwund die Ehre in Anspruch nehmen, den Euro gerettet zu haben. Welch ironisches Ende für eine Partei, die auszog, den Kapitalismus abzuschaffen.

Das zeitliche Zusammentreffen ist mehr als ein Zufall: Frankreich hat am Wochenende den in den Präsidentenwahlen i eingeleiteten Machtwechsel vervollständigt. Mit einer selbst für die französischen Verhältnisse großen Machtfülle werden sich Regierung und Präsident in Bälde mit einem größeren Problem konfrontieren müssen, nämlich der 2013 fälligen Umschuldung von unvorstellbaren 300 Milliarden Euro. Dass Hollande, unter solchem Druck der Finanzmärkte stehend, auf Konfrontationskurs mit Angela Merkel geht, ist schwer vorstellbar.

Das Abschneiden des Front de Gauche unter Jean-Luc Mélenchon, dem Shootingstar der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, verdeutlicht die Paradoxie des politischen Systems der fünften französischen Republik. Zwar erhielt die, durch ein Zusammengehen von Kommunisten, linken Sozialisten und Trotzkisten neu aufgestellte radikale Linke Frankreichs mehr Stimmen und Prozentanteile als 2007, muss aber dennoch Mandatsverluste hinnehmen. Dass sie in der neuen Nationalversammlung als Fraktion vertreten sein wird, verdankt sich unter anderem einer politischen Einigung mit der SP. Durch die 2002 für von Lionel Jospin und Jacques Chirac im Hinblick auf die Einrichtung eines Zweiparteiensystems ausgerichtete Wahlrechtsreform können PS und UMP mit weniger als 60 Prozent der Stimmen 90 Prozent der Mandate unter sich aufteilen. Die beiden Mandate, mit denen übrigens der Front National in die Nationalversammlung einzieht, sind insoweit signifikant, als sie sich weniger einem stimmenmäßigen Zuwachs denn inoffiziellen Absprachen mit der unter Sarkozy demoralisierten konservativen Rechten verdanken.

Das Gesamtbild, das sich für die Linke der Linken in Europa ergibt, ist also noch uneinheitlich, jedoch eindeutig positiver als vor wenigen Jahren. Verlusten in Deutschland stehen beträchtliche Erfolge gegenüber, unter anderem in Finnland, Dänemark und in Spanien. Die Ergebnisse weisen alle in eine ähnliche Richtung: Europas Bürger wenden sich vom neoliberalen Spardiktat und den es verkörpernden Parteien ab. Anders aber als bei den Wahlen zu Beginn dieses Jahrhunderts gewinnen nicht nur sozialdemokratische Parteien, sondern auch deren linke Konkurrenten. Damit scheint neben Sozialdemokraten und Grünen ein radikaler Pol der Linken in Europa zu entstehen. (Walter Baier, DER STANDARD, 20.6.2012)