Bild nicht mehr verfügbar.

"Jeder Umsturz, jede Revolution beginnt mit Schulden, welche die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann" - (Frank Schirrmacher, FAS) - hier Occupy-Proteste in Frankfurt...

Foto: AP/Vedder

Bild nicht mehr verfügbar.

....und hier in London.

Foto: AP/Lipinski

Die Zeiten sind harsch, die Schuldenberge dies- und jenseits des Atlantiks hoch. So mächtig sind in manchen Staaten die Verbindlichkeiten gewachsen, dass es den Ländern schier unmöglich erscheint, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Rettungslos verloren, so lautet vielfach die Diagnose für solche Kandidaten, Sparen, Sparen, Sparen die Therapie für den überwiegenden Rest.

Und die Ökonomen rechnen: Mit dem Schlimmsten, mit der Vernunft, mit der Zunft ab und neue Wege und Lösungen vor. Just in solchen Zeiten, kommt ein Blick über den Tellerrand wie gerufen. Und so mag es nicht verwundern, dass David Graebers umfangreiches Werk "Schulden, die ersten 5.000 Jahre" in den deutschen Medien mit geradezu hymnischer Begeisterung aufgenommen wird. Auch wenn die Thesen des US-Amerikaners nicht nur Zustimmung finden, sein Buch gilt unseren Nachbarn schon jetzt als "eines der wichtigsten Sachbücher des Jahres", als "Offenbarung", als "einer der erhellendsten Kommentare zur aktuellen Krise".

Die Macht der Schulden

David Graeber gilt als einer der führenden Köpfe der Occupy-Bewegung und er ist Anthropologe. Als solcher macht er auch vor ökonomischen Gewissheiten nicht halt. Privatschulden sind Lebenssaft der Wirtschaft, alle modernen Staaten nehmen zur Finanzierung ihrer Ausgaben Schulden auf. Aber niemand scheine genau zu wissen, wundert sich Graeber, was es damit auf sich habe, oder darüber nachzudenken. Er findet, die Zeit für eine differenzierte Betrachtung sei reif. Und so macht sich der 51-Jährige auf, um zu ergründen, was diesen Begriff "so seltsam mächtig macht."

"Ich habe den Eindruck, ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden." Graeber will in Zeiten, wo das zentrale Thema in Wirtschaft und internationaler Politik die Schulden sind, den Resetknopf drücken: "Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte", so der in England Lehrende und von der renommierten Yale Universtity trotz seines fachlich exzellenten Rufes vor die Tür gesetzte, bekennende Anarchist. "Es riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht."

Die Geschichte des Geldes verkehrt erzählt

Um das zu argumentieren und mit Fakten zu hinterlegen, holt die Gallionsfigur der Occupy-Bewegung weit aus und macht auch vor den Säulenheiligen der Ökonomie nicht halt. Denn um die Geschichte der Schulden zu erzählen, braucht es auch die Geschichte des Geldes. Die beruht mit dem "Gründungsmythos der Wirtschaftswissenschaften" auf der Idee, dass die Geschichte des Geldes mit dem Tauschhandel beginnt. "Wenn jene von den Ursprüngen des Geldes sprechen, sind Schulden immer so etwas wie ein nachträglicher Gedanke. Erst kommt das Tauschgeschäft, dann das Geld; der Kredit taucht erst später auf. Aber so stimmt das nicht", meint Graeber und bringt Adam Smith ins Spiel mit seiner tausend Mal zitierten Sicht des Güteraustausches. Der schottische Aufklärungsphilosoph sieht den Wohlstand der Nationen in einer "natürlichen Neigung" der Menschen, miteinander zu handeln und Dinge untereinander zu tauschen, begründet. Vermutlich zum Vorteil von beiden Seiten.

Graebers Quellenstudium - von ägyptischen Hyroglyphen bis zu mesopotamischen Keilschriften - ergab einen nüchternen Befund: "Selten wurde eine historische Theorie so vollkommen und systematisch zerlegt." Smith habe die Geschichte vom Tauschhandel - Fisch gegen den Weizen - in die Welt gebracht, die es so nie gegeben hätte. Anthropologen hätten schon lange festgestellt, dass die Menschen nie wirklich direkten Tausch betrieben hätten. "Wir fingen nicht mit dem Tauschhandel an, entdeckten dann das Geld und entwickelten schließlich Kreditsysteme. Was wir heute virtuelles Geld nennen, war zuerst da. Die Münzen kamen viel später (...) Der Tauschhandel war offenbar in erster Linie eine Art zufälliges Nebenprodukt der Verwendung von Münzen und Papiergeld. Kreditsysteme - also das was wir heute als virtuelles Geld bezeichnen - habe es schon in Mesopotamien gegeben.

Geschichte der Menschheit als Geschichte der Schuldbeziehung

Auf über 500 Seiten beschreibt Graeber die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Schuldbeziehung. Und da stehen nicht die positiven Seiten des Schuldenmachens im Vordergrund. Nicht der ökonomische Grundsatz, dass der eine Geld für eine Investition vorstreckt, in der Hoffnung darauf, dass der andere Gewinn macht und zurückzahlen,  und der Schuldner gleichzeitig mit seinem Betrieb loslegen kann. Schulden, das sind für Graeber eine lange Geschichte von menschlicher Unterdrückung und Gewalt. Einer nimmt vom anderen etwas, ohne dafür eine Gegengabe parat zu haben. Damit gerät er in Schuld und Abhängigkeit. Denn der andere versteht seine Gabe nicht als Geschenk, sondern als rückzahlbare Verpflichtung. Und das war quasi schon immer so.

In Mesopotamien entstand, lange vor dem Geld, ein System der Naturalschulden. Auf Tontafeln wurde die Verpflichtung fixiert, mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen. Wenn der Schuldner nicht zahlte, verlor er Land, Haus, Weib, Kinder und Freiheit. Der mit staatlich-religiöser Gewalt sanktionierte Schuldmechanismus polarisierte Arm und Reich, in Notzeiten führte das zum Exodus oder zum Aufstand der verschuldeten Massen. Ein periodisch dekretierter Schuldenerlass lag deshalb im erklärten Eigeninteresse der Herrschenden. Zeugnisse darüber fand Graeber schon in Hammurabis Gesetz; auch die Thora schrieb eine Rückgabe des Landes, Löschung aller Schulden und Lösung der Knechtschaft alle sieben und alle fünfzig Jahre vor. Graeber zitiert seinen ökonomischen Lehrer Michael Hudson: "Es ist einer der großen Unglücksfälle der Weltgeschichte, dass die Institution des Geldverleihens gegen Zinsen aus Mesopotamien sich ausbreitete, ohne in der Regel von den ursprünglichen checks and balances begleitet zu werden."

Und dann fing alles von vorne an

Ein System ohne Schulden sei effizienter, so der 51-Jährige. Und so sei ein Schuldenerlass unerlässlich. So wie früher: "Die Schulden wurden angehäuft, führten zu Krisen und wurden schließlich erlassen. Und dann fing alles wieder von vorne an." Das war die ursprüngliche Idee und die habe man Jahrtausende lang falsch verstanden. "Das Erstaunliche an dem Satz ‚man muss seine Schulden zurückzahlen‘ ist", so Graeber im Interview mit "Deutschlandradio", "dass er nach der ökonomischen Standardtheorie nicht stimmt."

Eins der besten Beispiele sei wohl das, was 2008 und davor passiert sei, als man armen Familien Hypotheken verkauft hatte, bei denen der Ausfall von vornherein unvermeidlich war. Es wurden Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis die Kreditnehmer nicht mehr zahlen konnten. Besagte Hypotheken und Wetten wurden zu Paketen verschnürt und an institutionelle Investoren verkauft mit der Behauptung, das Paket werde Geld einbringen, ganz gleich, was passieren sollte. Die Investoren konnten die Pakete weiterreichen, als wären sie Geld und die Verantwortung für die Auszahlung der Wette wurde einem gigantischen Versicherungskonzern übertragen, der - falls er unter dem Gewicht der daraus resultierenden Schulden zusammenbrechen sollte - von den Steuerzahlern gerettet werden müsse - und tatsächlich gerettet wurde.

"Interessant wird es" - so Graeber im Deutschlandradio - "wenn es ein Ungleichgewicht der Macht gibt, wenn ein großer Investor einem Kleinen Geld leiht, wenn reiche armen Leuten Geld leihen." Das für ihn entscheidende Detail 2008: "Wichtige Institutionen kommen immer damit durch, wenn sie Schulden gemacht haben und diese nicht bezahlen können. Dann gibt es Möglichkeiten zu verhandeln, sich da raus zu lavieren, und plötzlich sind Trillionen, Billionen von Schulden verschwunden." (Regina Bruckner, derStandard.at, 19.9.2012)