Zeigt Verdis Oper als ständig bewegtes geistiges Labyrinth zwischen Gefängnis, Hof und Kirche: Regisseur Daniele Abbado.

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Standard: Die Wiener Staatsoper spielt Giuseppe Verdis "Don Carlos" seit Jahren in der fünfaktigen französischen Urfassung. Sie bringen die Oper nun (Premiere 16.6., Anm.) in einer gängigen italienischen Version heraus, die um den ganzen ersten Akt kürzer ist. Verliert man da nicht zu viel von der Geschichte?

Abbado: Natürlich verliert man in der italienischen Fassung etwas, vor allem hinsichtlich der Beziehung zwischen Elisabeth und Don Carlo. Im ursprünglichen ersten Akt verlieben sie sich ineinander, bevor Elisabeth Carlos Vater Philipp II. heiraten muss. Aber man bekommt auch etwas sehr Interessantes: In der vieraktigen Form erhält das Stück nämlich eine kreisförmige Struktur. Es beginnt und endet mit dem geheimnisvollen Gesang der Mönche ("Karl V., der erhabene Herrscher, ist nur noch Asche und Staub", Anm.) und bekommt damit eine seltsame, übernatürliche Ebene ...

Standard: ... weil ja Karl V., dessen Grabmal in einem Kloster steht, am Ende bei Verdi leibhaftig auftritt und Don Carlo zu sich nimmt. Wie deuten Sie diese überraschende Wendung?

Abbado: Das ist sehr schwierig. "Don Carlo" ist das einzige Werk, an dem Verdi so lange gearbeitet hat; insgesamt gibt es ja sechs Versionen. Die einzige Erklärung, die ich gefunden habe, ist, dass er seine eigene Göttliche Komödie schreiben wollte. Natürlich gibt es eine sehr konkrete Bedeutungsebene - die lange Kette unglücklicher Vater-Sohn-Beziehungen: zwischen Karl und Philipp, zwischen Philipp und Don Carlo, aber auch zwischen dem Großinquisitor und Philipp. Verdi konnte Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" nicht kennen, aber ich empfinde hier eine große Nähe. Sowohl der Großinquisitor als auch Philipp sind eigentlich Vaterfiguren der Kastration. Don Carlo, der ein Symbol für die Jugend ist, wird von seinem Vater als Repräsentanten der Macht vernichtet.

Standard: Demgegenüber ist das Erscheinen Karls V. ganz offensichtlich mit Hoffnung verbunden. Wie deuten Sie das?

Abbado: Die ganze Oper ist ungeheuer dunkel und voller Trauer. Verdi zeigt uns lauter unglückliche menschliche Beziehungen. Da muss es auch Hoffnung geben. Natürlich spielt auch eine politische Hoffnung herein, verkörpert von der Beziehung zwischen Carlo und seinem Freund Posa. Die scheitert aber, bleibt vollkommen utopisch und romantisch. Es muss aber eine Möglichkeit für Freiheit geben. Dafür steht Karl als Deus ex Machina am Ende des Stücks.

Standard: Zeigen Sie Karl also als einen solchen Retter aus der Not?

Abbado: Man könnte natürlich einen realen Karl zeigen. Ich habe mich dagegen entschieden. Stattdessen geht es um die Ahnung einer Möglichkeit, das Unglück zu bremsen. Das Ende muss offen bleiben - auch, wenn Karl tatsächlich auf die Bühne käme.

Standard: Wie lesen Sie denn die religiösen Aspekte, von denen die Oper ja ziemlich voll ist?

Abbado: Die Oper ist mit all ihren schrecklichen Vorgängen am spanischen Hof vor allem voller Religion im allerschlechtesten Sinn. Wir dürfen nicht vergessen, dass Verdi ein schlechtes Verhältnis zur Kirche hatte und sicher nicht katholisch war. Es ist für viele seiner Opern typisch, dass nicht wirklich auf Gott und den Himmel vertraut wird. Stattdessen geht es um die Hoffnung auf andere Zustände auf der Erde, die bei ihm immer wieder durchklingt, obwohl er die Menschen im Grunde sehr pessimistisch sieht.

Standard: Sie scheinen eine gewisse Vorliebe für große, leere Räume zu haben. Wie sieht das Bühnenbild diesmal aus?

Abbado: Ich mag die Vorstellung, ein Bühnenbild zu haben, überhaupt nicht. Was man für das Theater braucht, ist ein Raum. Hier haben wir eine Blackbox, die gleichzeitig Gefängnis, spanischer Hof und Kirche ist, alles zusammen. Alles bewegt sich, die Wände, der Boden, die Perspektiven. Das ist sehr abstrakt und steht für ein geistiges Labyrinth, für das, was in Carlos Kopf passiert. Bei uns sieht man dabei die Stimmen, die er hört. Das Bühnenbild ist dabei sicher nicht realistisch oder naturalistisch, soll aber für das Publikum einen glaubhaften Rahmen bilden.

Standard: Lässt sich nicht auch in einem solchen Rahmen auf realistische Weise Theater spielen?

Abbado: Können wir heute auf eine realistische Weise Theater machen? Weil ich in Italien aufgewachsen bin, hat mich Giorgio Strehler ebenso geprägt wie das Theater von Brecht. Ich weiß nicht, ob wir Brecht heute schon genügend verstanden haben. Es kommt aber darauf an, dass man kritisch gegenüber sich selbst bleibt. Realismus ist im Theater jedenfalls nur ein Instrument unter vielen.

Standard: Welche Musik möchten Sie auf diesen Instrumenten spielen?

Abbado: Ich empfinde eine große Verantwortung gegenüber dem Publikum. Ich will die Zuseher nicht wie Idioten behandeln und ihnen vorschreiben, was sie denken sollen, sondern ihnen Möglichkeiten zur Interpretation geben. Und ich will ihnen zeigen, dass Werke wie jene Verdis nicht aus der Vergangenheit sind, sondern uns nahe sind - nahe der Sensibilität von Menschen von heute. (Daniel Ender, DER STANDARD, 16./17.6.2012)