Rorschachtest für Ihr politisches Korrektheitsgefühl: Wie darf man diese Speise nennen?

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Tja, das waren noch Zeiten, als man fast überall unsanktioniert von Negern und Zigeunern schwadronieren durfte! Heute entstehen bei Erwähnung dieser Äh-Bäh-Vokabeln selbst in Vorstadtbeisln Gefühle der Befangenheit: "Nega derf ma jo nimma sogn. Sog i hoid, i foa zu die Dunkelgrünen noch Namibia auf Urlaub" (vom Autor dieses Artikels im Wirtshaus gehörter Stoßseufzer).

Wer hat das Verdienst für bzw. trägt die Schuld an dieser Einengung des gesellschaftlichen Ausdrucksradius qua vorauseilendem Sprachgehorsam? Selbstverständlich die politische Korrektheit, jene eigentümliche Welle, die vor ein paar Jahrzehnten von US-Universitätscampus ins alte Europa übergeschwappt ist und sich auch hierorts breitflächig ausgebreitet hat. Und wie breitflächig! Die Zeiten, als PC als ein Steckenpferd von im akademischen Verborgenen wirkenden GenderforscherInnen gelten konnte, sind schon so lange passé, dass man sich kaum mehr an sie erinnert.

PC ist ein Massenphänomen, und je mehr es an einem präzisen Verständnis dessen mangelt, was es überhaupt ist, desto erhitzter werden die Debatten für und wider PC geführt. Kontroversielles und kompliziertes Terrain, das man mit simplistisch gezogenen Frontverläufen - hier die linguistischen Weltverbesserer, dort die Anti-PC-Kämpfer, die mit dem " Das wird man wohl noch sagen dürfen"-Bannerspruch ins Feld ziehen - nicht erschließen kann.

In dieser erklärungsbedürftigen Lage kommt ein Suhrkamp-Opus mit dem Ansinnen, die epische Geschichte vom "Glanz und Elend der Political Correctness" (Untertitel) zu erzählen, gerade recht. Geschrieben haben es Falter-Redakteur Mathias Dusini und FM-4-Mann Thomas Edlinger, Standard-Lesern auch als früherer Kolumnist des ALBUM bekannt. Das Resümee gleich vorweg: In Anführungszeichen ist ein ausgezeichnetes Buch, ein brillanter Essay, der das mächtige und mysteriöse PC-Phänomen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln erhellt und dies durchgängig mit der für die Komplexität der Sache erforderlichen Differenziertheit tut.

Differenziert: Das bedeutet, dass sich D & E flotte Parteinahmen, wie sie PC regelmäßig provoziert, kategorisch versagen. Kein wohlfeiler Spott über Sprachexzesse wie "vertikal herausgefordert", keine ungeprüfte Akzeptanz von Opferbehauptungen. Der Blick der Autoren auf das Studienobjekt ist analytisch und distanziert, aber nicht frei von Sympathie oder zumindest einem sehr genauen Verständnis für die Kulturen und Subkulturen, denen die PC entwachsen ist. Ein grundlegend kluger Schachzug der Autoren ist es, PC nicht als eine substanzielle, inhaltlich ein für alle Mal zu definierende Einheit zu verstehen, sondern als dynamisches Geschehen, in dem gesellschaftliche Positionen ständig neu ausverhandelt werden. So gesehen hat PC eine prinzipielle Nähe zum demokratischen Prozess an sich, allerdings ohne dessen formales Regelwerk. Die positive Absicht der PC anzuerkennen, ohne die Augen vor ihren pathologischen Auswüchsen zu verschließen, macht eine der Hauptqualitäten des Buches aus.

Der zentrale Wert, der zur Debatte steht, ist der der Achtung - und das Mittel, diese für sich zu beanspruchen, ist, sich zum Opfer zu deklarieren: Schwarze, die sich durch den Mohr im Hemd gekränkt fühlen, Frauen, die sich als Opfer männlicher Hegemonie sehen usw. Das potenzielle Ausmaß der Missachtungsopfer ist unermesslich, und wie D & E darlegen, wird die Sachlage noch ungemein verkompliziert dadurch, dass eine überschießende Identifikation mit Opfern gesellschaftlich ebenso wenig eine Seltenheit ist wie die fälschliche Inanspruchnahme des Opferstatus. Sarkastisch bemerken D & E, dass ein angebliches PC-Opfer wie Thilo Sarrazin derart brutal zum Schweigen gebracht wurde, dass er seine Ansichten in einer Minderheitenpostille wie der Bildzeitung verbreiten muss.

Ihrer These vom "substanzlosen" Wesen der PC folgend, kreisen D & E das Phänomen mit einer bunten Kasuistik einschlägiger Schlachtfelder und Scharmützel ein: Mohammed-Karikaturen und Auschwitzdebatte, das riesige Gender-Thema, ältere und neuere Kulturskandale (American Psycho, A Serbian Film), TV-Serien über politisch unkorrekte Zeiten (Mad Men), die Schlampenbewegung etc. etc. Die Bandbreite ist enorm, doch stets beschreiben und analysieren D & E die Sachverhalte genau, mit exquisitem Wissen und trockenem Witz. Wenn Weltverbesserungsansprüche so salbungsvoll daherkommen wie häufig bei PC, ist auch das Lächerliche häufig nicht weit.

Und D & E legen auch nach und nach die Schichten des historischen Bodens frei, denen das Gewächs entsprossen ist, von den turbulenten 60ern, in denen mit dem Anspruch, Opfer zu sein, nicht gespart wurde ("Woman is the nigger of the world"), über die deutschen "Importeure" des PC-Gedankens (Diedrich Diedrichsen) bis hin zu einer unter dem Schutzgott des Narzissmus stehenden Gegenwart, "die in Borderline und Burnout ihr seelisches Hinterland hat".

Von den Freiheiten der Langessays machen D & E abwechslungsreichen Gebrauch: Der Abschlussteil ist ein lapidar-witziges Glossar von Schlüsselbegriffen, bei denen, wo immer sie ins Spiel kommen, die obligate PC-Debatte nicht weit ist: Behinderte, Betroffenheit, Mainstreaming, Wutbürger, Unesco ("Weltbank des schlechten Gewissens"), Toscana-Fraktion ("Bobos der 80er-Jahre") oder Prekariat: "Man erkennt es an Vollbärten und Kleidern belgischer Modeschöpfer. Das Prekariat hört Platten von Will Oldham und Soap&Skin. Yoga ist seine häufigste Therapie." Ein Buch, das aufs Beste belehrt und erfreut. Nachdrückliche Empfehlung!    (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 16./17.6.2012)