Der europäische Kanon: "Die Menschen sind in ihren Entscheidungen frei."

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Der Diskurs über die Schuldenkrise und ihre Folgen ist den Ökonomen längst genauso entglitten, wie diese selbst. Der Schriftsteller Günther Grass sieht Griechenland "nackt an den Pranger gestellt" und klagt den Markt an, dass er jenes Land, dem Europa so viel verdanke, dem Chaos nahe gebracht habe. David Graeber, US-Anthropologe und politischer Aktivist, hat seinerseits die diskussionswürdige, wenn auch ein wenig überzogene Frage aufgeworfen, warum die Moral der Schulden stärker sei als jede andere Art von Moral. Als Konsequenz plädiert er für ein globalen Schuldenschnitt - die freundliche Andeutung des Ökonomen Bernhard Felderer, dass man mit einer Rückzahlung der gigantischen Summen, die in die Olivenstaaten wandern, wohl nicht rechnen sollte, wird Graeber allerdings nur teilweise beruhigen. Das Geld hätte die sozialen Beziehungen korrumpiert,

Das hat auch schon John Locke, einer der Ahnherren des Liberalismus ansatzweise so gesehen. Für Locke war die Einführung des Geldes eine gesellschaftlich bejahte irreversible soziale Veränderung. Graeber plädiert für eine geldfreie Tauschwirtschaft, in der es das Herrschaftsinstrument der Schulden nicht mehr gibt und Günther Grass beruhigt wäre, weil keiner mehr die Befolgung der Moral der Schulden erzwingen würde.

Aber wo liegt die Wurzel dieser Moral und können wir sie so einfach abstreifen? Die Menschen sind in ihren Entscheidungen frei, das gehört - von Sokrates, der lieber sterben wollte, als ein schlechter Bürger zu sein, über Kant bis Sartre - zu jenem europäischen Kanon, auf den sich Grass ein wenig schwammig beruft. Und die Sache mit der Freiheit ist ziemlich vertrackt. Ja gewiss, die Werbung suggeriert uns, dass Freiheit nur die Existenz einer unendlichen Zahl von unverbindlichen Optionen bedeutet. Der Reduktionismus ist offenkundig: selbst wer sich in der unbeschränkte Freiheit vorgaukelnden Warenwelt für ein Produkt entscheidet, wählt - manchmal ohne daran zu denken - auch die Folgen: zumindest muss er das Produkt bezahlen, kann sich möglicherweise kein anderes kaufen und muss damit leben.

Die freie Entscheidung hat Folgen und in ihrer Gesamtheit konstituieren diese eine Verantwortung, die der Freiheit ihre Grenzenlosigkeit nimmt. Es klingt uns Heutigen absurd: aber wenn es die Folgen einer Entscheidung aufs eigene Leben nicht gäbe, dann wäre die Freiheit ja keine Freiheit. Wenn es gleichgültig ist, ob ich grün oder blau wähle, dann bin ich wohl nicht frei. Erst die Folgen geben der Freiheit ihre Verbindlichkeit. Wer also die Konsequenzen seiner Entscheidung nicht tragen will, der will seine Freiheit nicht - das gilt auch für den modernen Sklaven seiner Schulden.

Das öffentliche Bild der antiken Sklaven, auf das sich Graeber beruft, und an dem Grass mit seinen Formulierungen vom "rechtlosen Land", dem man "den Gürtel enger und enger schnallt" partizipiert, zeichnet ein reduziertes Bild der Sklaven. Sie waren unfrei, ohne Zweifel, aber manche von ihnen waren gesuchte Spezialisten, wohlhabende Leute, die man allerdings verkaufen konnte, wie einen modernen Fußballlegionär. Was ihnen fehlte, war die Würde.

Graeber beklagt den Umstand, dass die Ehre zur Grundlage der modernen Zivilisation geworden ist - aber auch in einer geldlosen, bedarfsorientierten Tauschgesellschaft hätte einer, der auf Dauer viel nimmt und wenig gibt, ein geringes Prestige.

Da gibt es wohl einen Widerspruch zwischen den Regeln unserer Zivilisation und einer davon entkoppelten Ökonomie: Schuldenschnitte mögen für die Funktionsweise der europäischen Ökonomie notwendig sein, doch gleichzeitig beschädigen sie die Würde des Schuldners unkorrigierbar. Ja, mit "resozialisierten" ehemaligen Zahlungsverweigerern macht man wieder Geschäfte, als Rohstofflieferant oder Absatzmarkt mögen sie nützlich sein, aber die Beschädigung ihres Prestiges hält zumindest über eine Generation.

Noch folgenschwerer ist die Selbstbeschädigung des zahlungsunwilligen Schuldners: mit seinen ihn absorbierenden Anschuldigungen gegen Banken, Politiker und Kapitalismus, mit seiner Leugnung der eigenen Beteiligung und dem Anspruch auf Solidarität als Opfer, tötet er jene kreative Energie, die ihn in dieser Extremsituation retten könnte. Es ist die Ausrede, die den zahlungsunwilligen Schuldner zum Sklaven macht. (Alfred Pfabigan, DER STANDARD, 15.6.2012)