Einmal Abklatschen vor der Rede: Alexis Tsipras bricht mit dem Stil der alten griechischen Politiker und hat Erfolg damit.

Foto: Standard/Bernath

Ein bleiches Gesicht mit pechschwarzem Haar, einen Arm in den Abendhimmel gereckt, halb grüßend, halb triumphierend - so stürmt Alexis Tsipras voran und schiebt die Menge von Applaudierenden wie eine Welle vor sich her; bis sie sich schließlich teilt und ihm den Weg freigibt zum Podium.

"Das ist die Stunde der Linken. Das ist die Zeit, wenn wir aufstehen und unser Schicksal in die Hand nehmen", psalmodieren die Genossen durch die Lautsprecher, "Geh vorwärts, Volk, hab keine Angst!" Doch das Verlangen nach Wechsel in Griechenland ist um so vieles größer als die alten Parolen der Linken. Tsipras weiß das. Er ist ein Mann in Eile, er will an die Macht.

Auf dem Plastira-Platz von Chios, der Hauptstadt der gleichnamigen Insel weit im Osten der Ägäis, legt der Chef von Syriza, der "Koalition der radikalen Linken", einen Stopp für eine Wahlkampfrede ein. Europas neuer Polit-Star verkündet seinen Zuhörern die Botschaft vom Griechenland, das Nein sagen wird zu seinen Kreditgebern. "Das hier ist eine friedliche Revolution! Sie geht weit über die Linke hinaus!", ruft Tsipras über den Platz. "Der 17. Juni ist nicht nur eine Wahl, sondern ein Referendum. Es ist nicht ein Kampf zwischen Nea Dimokratia und Syriza, sondern zwischen den Kräften des Gestern und der Unterwerfung und den Kräften der Hoffnung."

Rückenwind aus Europa

Es sind die letzten Tage vor den Neuwahlen. Tsipras fühlt den Rückenwind, den die immer lauter werdenden Zweifel in Europa am Sinn der Austeritätsprogramme schaffen. Aber er hat noch mehr Trümpfe im Ärmel: Er ist jung, nicht korrumpiert, er sagt, was die Griechen hören wollen, er war von Anfang an gegen den Sparkurs. "Alle Teile dieses Puzzles fallen mit einem Mal zusammen in ein großes Bild", sagen sie bei Syriza, einem bunten Haufen, der jahrelang kaum fünf Prozent der Stimmen erhielt.

Die Wahlen vom 6. Mai haben die radikale Linke überraschend zur zweitstärksten Kraft gemacht. Jetzt, im zweiten Anlauf, setzt das lose Bündnis aus Maoisten, Ökosozialisten und Reformkommunisten zum Sprung in die Regierung an. 30 Prozent sind drin.

Der schwarze Haarschopf ist das Erste, was auffällt. Sorgfältig aufgerichtet mit Haargel, sodass er wie eine Schuhbürste über seiner Stirn steht, soll er Tsipras einen frech-spitzbübischen Zug geben. Er trägt einen hellbraunen Baumwollanzug, der im Rücken knittert; und wie immer keine Krawatte. Auch darauf legt er Wert. Mit 37 gilt Tsipras als junger Politiker, zumindest für griechische Verhältnisse, wo Übergewicht und Pensionsalter bisher als Ausweis von Seriosität galten. Ein griechischer Politiker lacht nicht wie Tsipras, und gut aussehen muss er auch nicht unbedingt. Tsipras aber ist ein Verführer. "Sexy Alexi" nennen ihn die Griechen, auch wenn der Stress ihn ein wenig aufgedunsen gemacht hat und sein Händedruck weich geworden ist wie der aller Politiker, die Hunderte von Händen schütteln.

Auf dem Hauptplatz von Chios sitzt Tsipras zunächst neben seinem Listenkandidaten. Michalis Krimizis heißt der und ist Besitzer eines Ladens für Vorhänge und Innendekoration und Vizepräsident der örtlichen Einzelhändlervereinigung. Nicht eben ein Hort der kommunistischen Weltverschwörung. Auch das zeigt, wie attraktiv das Bündnis der Linksradikalen für weite Teile der Gesellschaft geworden ist.

Der drastische Sparkurs in Athen schränkt die 50.000 Inselbewohner in ihrer Mobilität ein. Die Fähren haben die Preise fast verdoppelt. Die Flugtickets nach Athen kosten inzwischen bis zu 300 Euro. "Wir wollen mehr Wettbewerb und eine staatliche Behörde, die das überwacht", sagt Aristoteles Tympas, ein Wirtschaftsprofessor auf Chios, der ebenfalls für Syriza kandidiert: "Wir wollen das System rationalisieren."

Wenn er seine Rhetorik mäßige, sozialdemokratischer klingen lasse, dann könne Tsipras gewinnen, sagen Politikberater in Athen. Tsipras scheint dem Rezept zu folgen. Es ist keine Demagogen-Rede in Chios geworden, kein Auftritt eines Volkstribuns. "Wir versprechen nicht, die höllische Lage des Landes am 18. Juni, innerhalb eines Tages, in einen Himmel zu verwandeln. Es gibt keine ein fachen Lösungen", sagt Tsipras. Doch woher er das Geld nehmen will, um den Staat wieder höhere Pensionen und Gehälter zahlen zu lassen und die neuen Steuern abzuschaffen - das sagt er nicht. (Markus Bernath aus Chios, DER STANDARD, 15.6.2012)