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Foto: apa/epa/infineon
Wien - In den Zimmern, wo Feldmarschall Radetzky seine Schlachten plante (oder ausschlief), da konferierte am Wochenende die World Psychiatric Association (WPO) und plante ihre Schlachten gegen Depression, Schizophrenie, sexuelle Abweichungen und Fresssucht. Mit kräftiger Hilfe der Pharmaindustrie, die ein "Satellitensymposion" schon um 6.15 Uhr beginnen ließ (es war von Antidepressiva und Schlafmittelchemie die Rede).

Globalthema Diagnose

Globalthema für die über zweitausend angereisten Welt-Psychiater: "Diagnose in der Psychiatrie".

Keine Behandlung ohne Diagnose. Aber das klingt so leicht. Wie schwer es ist, zeigten Vorträge in einer der Dutzenden Sektionen: "Die Rolle der Kultur in Diagnose und Klassifikation", Unterabteilung: Probleme bei Migranten. Einerseits versucht die Weltgesundheitsorganisation, eine einheitliche Terminologie weltweit durchzusetzen. Anderseits sind kulturelle Unterschiede bei Krankheitsdiagnosen frappant, wie Wieland Machleidt berichtete: Migration zum Beispiel erzeugt - als "dritte Initiation nach Geburt und Adoleszenz" - enormen Stress mit psychischen Störungen (Angst, Agoraphobie).

Eine Frage der Kultur

Nun wurde bei Migranten viel öfter als bei den Einheimischen in Deutschland "Schizophrenie" diagnostiziert, verstärkt bei Türken mit Sprachproblemen. Überdies wurden in Deutschland - im Verlauf dieser Studie - 32 Türken als "schizophren" eingestuft, die in der Türkei selbst als "depressiv" klassifiziert wurden.

Folgerung daraus: Der Ausdruck von Krankheit ist kulturell völlig verschieden. Rohn Baily aus Texas hatte zuvor schon von - bei uns gar nicht bekannten - Störungen gesprochen, etwa "Koro", bekannt in Malaysia und Assam: die plötzliche Angst, der Penis würde in den Körper zurückwachsen. In westlicher Terminologie: Ist dies eine Angststörung in Richtung Depression oder eine Subjektzerrüttung in Richtung Schizophrenie?

Neue Medikamente

Das macht vorsichtig bei Vorträgen zu neuen Medikamenten gegen Depression und Schizophrenie. Janssen-Cilag sponserte Referate zu neuen Antipsychotika: Eduard Vieta (Barcelona) warb für Risperidon beim Einsatz gegen Manie und belegte dies mit einer Feldstudie unter 1250 Patienten, zumal, wenn es noch mit Gemütsaufhellern kombiniert würde.

Für solche Kombination setzte sich auch Heinz Grunze (München) ein und betonte, dass Risperidon besonders für schwere Fälle sich breitbändig als wirksam erwiesen habe (allerdings scheint die Datenbasis von 36 Patienten etwas dünn).

Doppelte Strategie vs. Einbahn

Eli Lilly bezahlte das Frühsymposion mit der Leitfrage, ob bei Depression eine doppelte Chemiestrategie besser sei als die Einbahn: Die Neurotransmitter Serotonin einerseits, Norepinephrine anderseits hätten sich schon getrennt als Depressionsblocker erwiesen. Und die Kombination? Dennis Charney (Bethseda, USA) meinte, eine Kombination aus beiden, etwa mit Mirtazepinen, sei wirksamer als die eingleisige Therapie. Soweit man dies vorläufig aus Studien entnehmen könne.

Von den chemischen zurück zu gesellschaftlichen Problemen: In einem Referat erfuhr man, dass quer durch die Kulturen Frauen mehr unter der unipolaren Depression leiden als Männer - psychosoziale Stressfaktoren aus der Geschlechtsrolle. Was tun: die Gesellschaft ändern oder die Chemie? Gesellschaft oder Chemie perfektionieren? (Richard Reichensperger/DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2003)