"Oh, muss dieser Gummi zwischen uns sein, mein Liebling?" - "Leg das an! Willst du mich zur Mörderin machen?": Titelseite der Juni-Ausgabe von "Bayan Yani", einem mehrheitlich von Frauen produzierten Satire- und Comic-Magazin. Der türkische Regierungschef Erdogan hatte Abtreibung mit Mord gleichgesetzt.

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Kurz einmal weg gewesen, und bei der Rückkehr findet man das Land tief verstrickt in einen politischen Streit wieder, schwer unter Zeitdruck, weil das Problem, von dem zwei Wochen zuvor noch niemand etwas ahnte – der Regierungschef und Inspirator, so darf man annehmen, selbst eingeschlossen – nun mit höchster Priorität gelöst werden muss. Binnaz Toprak reibt sich die Augen. Die langjährige Soziologieprofessorin an der Istanbuler Bahçeşehir-Universität und nunmehrige Parlamentsabgeordnete der Oppositions- und Dauerprojektpartei CHP war kurz in den USA. Als sie zu Hause auf die Titelseiten der Zeitungen schaut, sieht sie nur ein Wort: "KÜRTAJ". Die Türkei beschäftigt sich mit der Abtreibung, genauer gesagt mit deren Abschaffung. So hätte es gern Regierungschef Tayyip Erdogan.

Es ist immer noch unklar, was genau der fromme Machtmensch von seiner Parlamentsmehrheit in Ankara abnicken lassen will: die Verkürzung der legalen Abtreibungsfrist von derzeit zehn Wochen auf sechs oder vier oder gleich die Nulllösung. Gesundheitsminister Recep Akdag ließ diese Woche wissen, die Regierung werde einen "Mittelweg" finden, so, als ob es gegenwärtig gar keine rechtliche Regelung gäbe und rund um die Uhr im ganzen Land Föten schwangerer Frauen abgetrieben würden. Noch Ende dieses Monats aber soll das Gesetz angeblich stehen.

Dabei war die Abtreibungsfrage nie ein Thema, ihre Abschaffung stand in keinem Wahlkampfprogramm der konservativ-muslimischen AKP, und Tayyip Erdogan hat knapp zehn Regierungsjahre lang, bis zum 25. Mai 2012, mit diesem mittlerweile denkwürdigen Satz gezögert: "Ich bin ein Regierungschef, der gegen den Kaiserschnitt ist. Ich betrachte Abtreibung als Mord." Was der Kaiserschnitt mit der Abtreibung zu tun hat, dazu später. Die Frage, die sich Binnaz Toprak und nicht wenige andere in der Türkei stellen, ist: Warum haben wir das alles jetzt?

Die Oppositionspolitikerin tippt wie viele andere auf ein schlichtes politisches Kalkül des Regierungschefs. "Er wollte den Uludere-Vorfall vergessen machen und die innenpolitische Debatte verändern", sagt sie. "Uludere" ist in der Tat zu einem Problem für die türkische Regierung geworden. Die Debatte um das tragische Fehlbombardement von kurdischen Schmugglern an der türkisch-irakischen Grenze will nicht aufhören. 34 Zivilisten waren am 28. Dezember vergangenen Jahres bei dem Luftangriff des türkischen Militärs getötet worden. Die Regierung schob den Generälen die Verantwortung zu. Eine Parlamentskommission sollte klären, wie die Militärführung PKK-Kämpfer mit Schmugglern verwechseln konnte (oder gar wollte – für alle Anhänger von Konspirationstheorien). Erdogan reiste nach Uludere und versprach den Familien der Hinterbliebenen Entschädigungszahlungen. Danach aber agierte die Regierung zunehmend ungeschickt. Die Kurdenpartei BDP ließ dabei nicht locker und pochte auf Aufklärung und Wiedergutmachung, immer suggerierend, der türkische Staat glaube, die Kurden als Bürger zweiter Klasse ohne Konsequenzen bombardieren zu können.

Innenminister Idris Naim Şahin schließlich, der schon in der Vergangenheit durch unbedachte Äußerungen auffiel, machte alles noch schlimmer, als er erklärte, der Staat müsse sich nicht bei den kurdischen Familien der Opfer entschuldigen. Das war gleich doppelt ungeschickt: Die Kurden fühlten sich nun erst recht in ihrer Auffassung bestätigt, und die türkische Regierung führte sich selbst als inkonsequent vor – sie hatte schließlich wegen der ausstehenden Entschuldigung Israels für die Erschießung von neun Aktivisten auf dem Gaza-Hilfsschiff Mavi Marmara die diplomatischen Beziehungen auf ein Minimum reduziert und war in einem anderen Fall – dem irrtümlichen Bombenangriff des US-Militärs auf pakistanische Soldaten – als großer moralischer Fürsprecher Pakistans aufgetreten, das ebenfalls eine Entschuldigung für den Tod seiner 24 Soldaten fordert.

Şahin löste eine enorme Polemik zwischen Regierung und Opposition aus, im Parlament flogen wieder die Fäuste. Dann trat Erdogan zum Abschluss einer UN-Konferenz zur Bevölkerungsentwicklung in Istanbul an das Rednerpult und sprach seinen Satz vom Kaiserschnitt und der Abtreibung als Mord. Bei einem anschließenden Parteitreffen, für das in Istanbul das Türk-Telekom-Fußballstadion gefüllt wurde, holte er dann zu einer grotesken Erklärung aus:

"Ich weiß, dass dies (Kaiserschnitt und Abtreibung, Anm.) geplante Schritte sind, um das Wachstum unserer Bevölkerung zu stoppen. Ich wende mich auch an diese Kreise, die gegen diese Worte sind, und an bestimmte Teile der Medien. Tagaus, tagein redet ihr über Uludere. Ich sage, jede Abtreibung ist ein 'Uludere'. Ich frage euch, wo liegt der Unterschied, ein Kind im Bauch seiner Mutter zu töten oder es später zu töten? Wir müssen alles das bekämpfen. Wir müssen begreifen, dass dies schmutzige Pläne sind, um unsere Nation von der Weltbühne zu vertreiben. Und damit diese Nation sich vermehrt, dürfen wir nicht auf diese Spiele hereinfallen."

Niemand in Erdogans Umgebung wollte den Sinn dieser Worte in Frage stellen – öffentlich zumindest. Die Verbindung zwischen Abtreibung, internationaler Verschwörung gegen die Türken und den "Nekrophilen", wie Erdogan die Politiker und Journalisten nannte, die das Uludere-Bombardement weiter thematisieren, war an Absurdität schwer zu überbieten, doch sie erfüllte erst einmal den Zweck: Erdogan justierte die innenpolitische Debatte neu. Er ist nie stärker, als wenn er seine Gegner im Land mit konservativ-muslimischen Ideen provozieren kann und sich dabei der Unterstützung durch das fromme Volk sicher glaubt.

Bei einem Verbot oder einer Verschärfung der Abtreibung allerdings (wahrlich auch kein Projekt allein islamischer Konservativer) läuft es nicht so einfach für den AKP-Premier. Zwar steht außer Frage, dass seine Fraktion im Parlament einer Neuregelung zustimmt, wie es von ihr verlangt wird. Die intellektuelle Basis der AKP-Herrschaft bröckelt aber ein wenig weiter. Hidayet Şefkatli Tuksal zum Beispiel, eine islamische Feministin – ähnlich wie die Kolumnistin und Anwältin Sibel Eraslan -, ist empört über Erdogans Gleichsetzung von Abtreibung und Mord. Es sei Sache der Frauen, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht, sagte sie in einem Interview mit dem türkischen Nachrichtensender ntv. Frauen müssten also Zugang zu Mitteln der Geburtenkontrolle haben.

Geschehen ist in den vergangenen Jahren das Gegenteil: "Einrichtungen für die Familienplanung sind weggenommen worden, Frauen ist der Zugang zu solchen Institutionen weggenommen worden. Es ist schwieriger für Frauen geworden, die nicht schwanger werden wollen, das zu vermeiden. Auf diese Weise ist der Weg zu Abtreibungen geöffnet worden. Jetzt versucht ihr, die Abtreibung zu verbieten. Das führt nur dazu, dass Frauen Abtreibungen unter ungesunden Bedingungen suchen." Die weit verbreitete Praxis des Kaiserschnitts prangerte Erdogan dabei wegen der Kosten an; die türkischen Ärzte würden damit nur Geld machen. Das Gesundheitsministerium überwacht das nun.

Die absehbare Folge, dass ärmere türkische Frauen – eine starke Wählergruppe der AKP – zu illegal gewordenen Abtreibungen in den Untergrund gezwungen werden und dabei erhebliche Risiken auf sich nehmen, hat auch die AKP-Abgeordnete Nursuna Memecan öffentlich erklärt. Selbst Kommentatoren in regierungsnahen Zeitungen kritisieren Erdogans Entschluss: Die Verpflichtung eines Staates sei nicht, die moralisch-religiöse Position eines Politikers in einem Gesetz festzuschreiben, sondern den freien Willen der Person zu garantieren, schrieb zum Beispiel Fehmi Koru in der Tageszeitung "Star".

Binnaz Toprak aber, die CHP-Abgeordnete und Soziologin, geht noch einen Schritt weiter. Erdogans Abtreibungsgesetz und die Eilfertigkeit seiner Minister seien bezeichnend für den Zustand der Türkei. "Wissen Sie", sagt sie, "das hier ist eine Ein-Mann-Regierung. Es gibt niemanden, der ihn stoppt. Und dafür mache ich auch die EU verantwortlich mit ihrem Widerstand gegen einen Beitritt der Türkei. Die Regierung hat die Idee aufgegeben, und das ist es jetzt, was wir hier haben." (Markus Bey, derStandard.at, 13.6.2012)