"Ich mag einmal von der Ärztekammer etwas hören außer ein Nein. Wir brauchen Organisationsmodelle, wo Arztpraxen länger offen haben und eine bessere Versorgung im niedergelassenen Bereich gewährleistet ist, mindestens so lange wie auch der Billa offen hat"

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"Natürlich kann man es besser machen und die Finanzierung ganz neu regeln", sagt der Gesundheitsökonom Christian Köck im Gespräch mit derStandard.at. Warum er die Gesundheitsreform trotzdem für einen Meilenstein hält und warum Arztpraxen solange offen haben sollen "wie der Billa", erklärte er Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Wie bewerten Sie die am Mittwoch präsentierte Gesundheitsreform?

Köck: Die Gesundheitsreform ist ein Meilenstein. Die zentrale Steuerung wird von Experten schon seit Jahrzehnten gefordert. Aufgrund der föderalen Struktur in Österreich haben wir eine historisch gewachsene Situation mit "perversen" Finanzierungsanreizen. Patientenströme werden in einer Weise gelenkt, das hat nichts mit Qualität oder mit Gesundheitsversorgung zu tun, sondern nur mit der Finanzierung. Das passiert, weil es sich für den Zahler mehr rechnet. Deswegen muss das aus einer Hand sein, auch wenn es ein virtueller Topf ist.

derStandard.at: Was ist der virtuelle Topf?

Köck: Die Finanzierungszusammenhänge werden virtuell zusammengezählt. Es gibt ein bestimmtes Ausgabenvolumen von 20 Milliarden, das steht zur Verfügung. Die unterschiedlichen Finanzierungspartner - Bund, Länder und Sozialversicherungsträger - einigen sich darauf, dass sie gemeinsam festlegen, wie viel jeder trägt, und dass dann für die einzelnen Länder festgelegt wird, wie das Geld aufgeteilt wird. Die Patienten sollen dann dort behandelt werden, wo sie am effizientesten und am besten behandelt werden. Ohne ELGA ist so etwas natürlich nicht sinnvoll.

derStandard.at: Warum war das Finanzierungsmodell so schwer durchsetzbar?

Köck: Wir geben in etwa zwölf bis 13 Prozent des BIP für Gesundheitsversorgung aus. Wir reden immer von Gesundheitskosten. Kosten sind es aber nur aus der Sicht von Sozialversicherungsträgern, Bund und Ländern. In Wirklichkeit sind Gesundheitseinnahmen ein großer Sektor der Volkswirtschaft. Jede kleine Veränderung in dem Finanzierungsspiel bedeutet Verluste bei manchen Gruppen und Gewinne bei anderen Gruppen. Das macht es schwer reformierbar.

derStandard.at: Inwiefern?

Köck: Die Krankenhäuser sind in den Gemeinden in den Bundesländern oft bei weitem die größten Arbeitgeber. Wenn sich Leistungen vom Krankenhaus in den niedergelassenen Bereich verschieben, bedeutet das, dass mittelfristig die Existenz mancher Krankenhäuser fraglich ist.

Man hat sich auf eine ergebnisbezogene Steuerung des Gesundheitswesens geeinigt, weg von einer ressourcenbezogenen Steuerung. Dabei geht es um die Frage, welche Gesundheitsziele erreicht werden sollen und was dafür ausgegeben wird. Dort, wo sie am besten erzielt werden kann, soll die medizinische Leistung erfolgen. Das bringt eine Dynamik in das System. Das ist den unterschiedlichen Beteiligten auch nicht unbedingt recht - beispielsweise den Ländern. Darum ist es so schwer, sich zu einigen. Gezwungen haben uns natürlich die Wirtschaftskrise und der Sparkurs, den sich die Regierung auferlegt hat.

derStandard.at: Der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer hat im Ö1-"Morgenjournal" die Gesundheitsreform scharf kritisiert und als "typisch österreichische Lösung" bezeichnet. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Köck: Nein, das kann ich nicht. Das ist für mich eine typische Haltung bestimmter Politikberater und -experten, im Out zu sitzen und zu sagen es könnte mehr sein. Richtig ist, dass es perfektere Lösungen gibt, es ist immer zu wenig. Die Frage ist, ob das politisch Mögliche erreicht worden ist und ob es gut genug ist. Natürlich kann man es besser machen und die Finanzierung ganz neu regeln: Sozialversicherung, Länder, Bund weg und alles Geld in einen wirklichen Topf stecken. Es gibt politische Realitäten. Unter den Bedingungen ist es ein großer Wurf.

derStandard.at: Es ist noch unklar, wie genau die gemeinsame Steuerung funktionieren soll. Glauben Sie an eine Umsetzung?

Köck: Ich glaube, ja. Die Verhandlungen laufen seit einem Jahr. Es haben sich alle Beteiligten aus dem Fenster gehängt, es bleibt aber der Republik nichts anderes übrig. Das Gesundheitssystem ist ein wesentlicher Teil der öffentlichen Ausgaben. Wenn wir einen allgemeinen Zugang zum Gesundheitssystem erhalten wollen, und das ist politischer Grundkonsens in Österreich, dann führt daran nichts vorbei.

derStandard.at: Was wird sich für den Patienten ändern?

Köck: Für den Patienten wird sich vieles ändern, wie der Ort der Leistungserbringung. Es wird vermutlich weniger im Krankenhaus gemacht werden und mehr im niedergelassenen Bereich. Das fordern Experten schon sehr lange. Im internationalen Vergleich sind die Länder, die ihren Schwerpunkt in der Gesundheitsversorgung auf den niedergelassenen Bereich legen, die besseren Gesundheitssysteme.

Spitalsambulanzen sollen nicht länger Auffangbecken für die Patienten sein, die im niedergelassenen Bereich nicht versorgt werden, weil Freitag oder ein Fenstertag ist. Mittelfristig wird es deutlich weniger Krankenhäuser geben, weil wir Leistungen in den niedergelassenen Bereich verschieben. 

Jahrzehntelang haben wir den Menschen eingeredet, dass ein Krankenhaus in der Nähe die beste medizinische Versorgung bedeutet. Tatsächlich stimmt das nur, wenn Größe und Frequenz der Behandlungen gute Qualität ermöglichen. Ist das nicht der Fall ist eine gut organisierte Gemeinschaftspraxis und ein Gesundheitszentrum außerhalb des Krankenhauses besser. Dafür brauchen wir weniger Krankenhäuser, aber die müssen spezialisiert sein. Das ist ein internationaler Trend, wie auch in den Niederlanden, in Dänemark und Norwegen.

derStandard.at: In der Gesundheitsreform sind finanzpolitische Ziele formuliert. Warum wurde nicht die Verschiebung vom stationären in den niedergelassenen Bereich festgelegt?

Köck: Das wird eine Folge sein. Hier wurden drei Dinge vereinbart. Einerseits die Kostendeckelung mit einer Steigerung von 3,6 Prozent. Das Zweite ist die Umstellung von einer ressourcenbezogenen Finanzierung zu einer ergebnisbezogenen Finanzierung, wo Gesundheitsziele und Qualitätskriterien festgelegt werden. Der dritte Punkt ist die virtuelle Aufrechnung der Finanzierungsgrenzen, die es zwischen den Zahlern gibt. Das ist alles ein Topf, es werden Qualitätsparameter geprüft und dorthin gezahlt, wo es am besten wirkt. Der Unterpunkt sind die Sanktionen. Finanzierung, Deckelung und Qualitätsmessung sind die Kernpunkte, das wird zu einer Verschiebung in der Versorgung führen.

derStandard.at: Die Ärztekammer hat den Entwurf scharf kritisiert. Kam das für Sie überraschend?

Köck: Nein, die Ärztekammer hat bis jetzt keiner Gesundheitsreform etwas abgewinnen können. Wenn der Präsident Dorner sagt, das ist eine reine finanzpolitische Reform, dann ist das zwar zum Teil richtig, aber es geht auch um qualitätsbezogene Steuerung, und das müsste der Ärztekammer ein Anliegen sein. Es geht darum, möglichst viel Geld ins System zu bekommen. Natürlich geht es ihnen um ein möglichst großes Umsatzvolumen. Das ist auch völlig legitim. Doch dann möge die Ärztekammer einmal einen Vorschlag machen, wie der Staat sein Gesundheitssystem mit den vorhandenen Mitteln aufrechterhalten kann. Ich mag einmal von der Ärztekammer etwas hören außer ein Nein. Wir brauchen Organisationsmodelle, wo Arztpraxen länger offen haben und eine bessere Versorgung im niedergelassenen Bereich gewährleistet ist, mindestens so lange wie auch der Billa offen hat -in welcher Organisationsform auch immer. Einmal soll die Ärztekammer einen konkreten Vorschlag machen, außer mehr Geld zu fordern. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 14.6.2012)