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Inderinnen protestieren im Mai in Neu-Delhi gegen Gewalt gegen Frauen. Fast die Hälfte aller Mädchen wird verheiratet, bevor sie 18 sind, Vergehen sind oft sozial akzeptiert und werden nicht geahndet.

Foto: EPA/ANINDITO MUKHERJEE

Madhu lernte Sameep über eine Internet-Partnerbörse kennen. Der 33-jährige Banker schien die passende Partie zu sein. Wenig später heiratete das Paar und zog nach Mumbai. Doch die Ehe wurde zum Albtraum. Der Mann begann, die 29-jährige Verlagsangestellte zu misshandeln, um mehr Mitgift zu erpressen. Mit den Nerven am Ende teilte Madhu ihren Eltern mit, dass sie ihn verlassen werde. Tags darauf fand man sie tot auf - mit Würgemalen am Hals.

Jede Stunde ein Mord wegen Mitgift

Jede Stunde wird in Indien eine Frau wegen Mitgift-Streitereien ermordet. Zehntausende Babys werden jedes Jahr abgetrieben, weil sie weiblich sind. Frauen werden vergewaltigt, geschlagen, als Kinder verheiratet und wie Sklavinnen gehalten. Eine Studie der Thomson Reuters Foundation kam nun zu dem Schluss: Indien ist der frauenfeindlichste Staat der G-20, den großen Industrie- und Schwellenländern der Welt.

Schlimmste Situation für Frauen in Indien und Saudi-Arabien

Als bestes Land für Frauen stuften die 370 befragten Experten Kanada ein. Deutschland errang den zweitbesten Platz, gefolgt von Großbritannien, Australien, Frankreich und den USA. Den Schluss bildete neben Indien das reiche Saudi-Arabien, das die Rechte von Frauen massiv beschneidet und ihnen nicht einmal das Autofahren erlaubt.

Nirgendwo aber finde man ein solches Ausmaß an Gewalt gegen Frauen wie in Indien, so die Studie. Dabei haben Frauen auf dem Papier gleiche Rechte. Seit 2005 gibt es sogar ein eigenes Frauenschutzgesetz. Doch die Realität sieht anders aus. "Frauen und Mädchen werden weiter wie Vieh verkauft, mit zehn Jahren verheiratet, lebendig verbrannt oder wie Sklaven gehalten", meint Gulshun Rehman von der NGO Save the Children.

Auch Ehrenmorde sind auf dem Land verbreitet. Opfer seien oft Mädchen und Frauen, die vermeintlich die Familienehre beschmutzt hätten. Noch immer würden fast 45 Prozent aller Mädchen verheiratet, bevor sie 18 Jahre alt seien, sagen Frauenorganisationen. Jede fünfte Frau stirbt bei der Geburt oder im Kindbett - darunter viele Teenager.

Kontrast zum Image Indiens

Das Ergebnis der Studie steht im Kontrast zu Indiens Image als moderne, aufstrebende Wirtschaftsmacht. Tatsächlich besetzen Frauen auch Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft. Mit Indira Gandhi führte bereits in den 1960er-Jahren eine Frau das Land. Heute gilt Sonia Gandhi, die Chefin der Kongresspartei, als mächtigste Person Indiens.

"Es gibt zwei Indien: Eines, das Frauen mehr Gleichberechtigung und Wohlstand zugesteht. Und eines, in dem die riesige Mehrheit der Frauen ohne jede Rechte lebt", sagt Sushma Kapoor von UN Women. Vielerorts bestimmt weiter ein barbarischer Chauvinismus das Denken: Der Mann ist alles, die Frau zählt nichts.

Juristen rufen nach härteren Strafen. Doch viele Politiker wagen sich nicht an das Thema heran. Weil Gewalt gegen Frauen sozial akzeptiert ist, fürchten sie um Wähler. Doch es gibt auch Hoffnung: Im Fernsehen werden die Missstände zunehmend thematisiert und angeprangert. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 14.6.2012)