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Mitscherlich war vor allem für das gemeinsam mit ihrem Ehemann verfasste Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" bekannt.

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Berlin - Wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag (17. Juli) ist Margarete Mitscherlich am Dienstag gestorben. Sie galt als "große alte Dame der Psychoanalyse" und Vorkämpferin der Frauenbewegung. 1967 veröffentlichte die Deutsche zusammen mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" (1967). Darin untersuchte das Ehepaar Mitscherlich am Beispiel der deutschen Nazi-Vergangenheit und ihrer unzulänglichen Bewältigung in der Adenauer-Ära die Abwehrhaltung des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen.

Mit ihrem Leben sei sie rückblickend "ganz zufrieden", sagte Mitscherlich vor fünf Jahren anlässlich ihres 90. Geburtstags. Auch wenn die Beine nicht mehr so wollten, wie sie es gern hätte, könne sie sich doch immerhin geistig noch ganz gut bewegen, lautete das damalige Resümee. "Ich lese viel, ich denke viel, ich schreibe viel, ich arbeite viel", beschrieb sie ihren Alltag. Auch mit 90 behandelte sie noch Patienten, beriet junge Kollegen und wagte sich noch auf Reisen.

Im Jahr 1917 als Tochter einer deutschen Lehrerin und eines dänischen Arztes geboren, wuchs sie während der Nazi-Diktatur in Dänemark und Deutschland auf. Nach dem Medizin-Studium arbeitete sie vorübergehend in der Schweiz, wo sie Alexander Mitscherlich kennen lernte. Der Psychoanalytiker (1908-1982) war in zweiter Ehe verheiratet und Vater von vier Kindern. Ihren gemeinsamen Sohn zog Margarete Nielsen die ersten Jahre mit Hilfe einer Freundin und ihrer Mutter alleine auf - in den 50er Jahren ein Skandal. Später heiratete das Paar doch und begründete damit eine jahrzehntelange Liebes- und Arbeitsbeziehung, eine Lebens- und Denkgemeinschaft.

Mitscherlich: Frauen nicht weniger aggressiv"

Gemeinsam arbeiteten die beiden zunächst in einer psychosomatischen Klinik in Heidelberg, später am Sigmund-Freud- Institut in Frankfurt, wo Margarete Mitscherlich zeitweise die psychoanalytische Ausbildung leitete. Gemeinsam schrieben sie für das Nachkriegsdeutschland prägende Bücher wie "Die Unfähigkeit zu trauern" (1967) über die kollektiven Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft. Später wandte sich Margarete Mitscherlich der Frauenbewegung zu. In ihrem bedeutendsten eigenen Buch, "Die friedfertige Frau" (1985), legte sie dar, dass Frauen nicht von Natur aus weniger aggressiv sind, sondern ihr vermeintlich ausgleichendes Wesen nur erlernt haben.

"Ich habe immer vertreten, dass Frauen sich nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen sich selbst durchsetzen müssen", sagt sie in dem Interview-Band "Eine unbeugsame Frau" (Diana-Verlag). Zur Lila-Latzhosen-Fraktion gehörte die elegante Dame nie, die sich freimütig zu ihrer Vorbliebe für teurere Kosmetika bekannte. Ihre Definition von Emanzipation könnte ebenso für Männer gelten: "Eine emanzipierte Frau ist in der Lage, sich von vorgefundenen Werten und Vorstellungen über ihre Rolle zu distanzieren."

Auch mit 90 noch Kommentatorin

Psychoanalyse und Feminismus hatten für Mitscherlich viel miteinander zu tun. "Freud hat als erster anerkannt, dass Frauen sexuelle Wesen sind." Freuds Lehren haben ihrer Meinung nach auch die Gesellschaft verändert: "Erst durch seine Arbeit haben wir die Möglichkeit (...) die Motive, die unserem Verhalten sowie die unbewussten Konflikte, die unseren Symptomen zugrunde liegen, hervorzuholen" - und durch das analytische Gespräch zu verändern.

Auch mit 90 hatte sie noch Spaß daran, Gegenwartsereignisse süffisant zu kommentieren. Im "Spiegel" las sie Öko-Gutmenschen die Leviten ("Man empfindet Schuld und dann agiert man im Dienst der guten Sache mit lustfeindlicher Hysterie"), in der "Brigitte" erklärte sie Schönheits-Operationen für "neurotisch" ("Im Spiegel ein fremdes Gesicht anzuschauen: Das würde mir noch viel mehr Angst machen"), in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur verteufelte sie den Begriff der arbeitenden Rabenmutter als "typisch deutschen Blödsinn".

Ihre Bilanz nach fast einem Jahrhundert wirkte fast ein wenig altersmilde: Aus dem faschistischen Deutschland ihrer Kindheit sei eine stabile Demokratie geworden, eine einstmals männerdominierte Gesellschaft habe immerhin eine Kanzlerin an die Spitze gewählt und die Grundbegriffe der Psychoanalyse kenne inzwischen jeder Taxifahrer. Eine Botschaft an die nachfolgenden Generationen war ihr dennoch nicht zu entlocken: "Mit dem Alter wird man ja nicht unbedingt klüger." (APA, 12.6.2012)