Die Gruppe als Alternative zur Vereinzelung im kleinbürgerlichen Mädchenzimmer: Die Schwangerschaft von Camille (Louise Grinberg, Mi.) löst eine Kettenreaktion aus. Die Erwachsenen staunen.

Foto: Thimfilm

Wien - Camille ist die Erste: eine 16-jährige Gymnasiastin, die schwanger wird und beschließt, das Kind zu bekommen. Hocherhobenen Hauptes durchmisst sie den Schulhof, hinter ihrem Rücken wird bald getuschelt. In Hohn, Mitleid und Unverständnis mischt sich auch wachsende Bewunderung. Wer wie immer unerschütterlich zu Camille hält, das sind ihre vier besten Freundinnen. Eine, die zu diesem Kreis schon lange dazugehören möchte, bringt etwas ins Rollen: Auch sie bekomme ein Kind, sagt die zarte Florence.

Nach und nach schließen sich weitere Schulkameradinnen an. 17 Mädchen sind es schließlich. So heißt auch der Film, der ihre Geschichte, basierend auf einer wahren Begebenheit, erzählt. Geschrieben und inszeniert haben die Schwestern Delphine und Muriel Coulin. Die ehemalige TV-Produzentin und die langjährige Kameraassistentin von Krzysztof Kieslowski haben seit 1997 fünf teils preisgekrönte Kurzfilme realisiert, 17 Mädchen (17 filles) ist ihr Spielfilmdebüt.

Der Großteil des jungen Darstellerinnenensembles bestand aus Laien. Dafür brachte das Team hinter der Kamera Arbeitserfahrung bei Apichatpong Weerasethakul, Michael Haneke oder den Dardenne-Brüdern mit. 17 Mädchen schlägt ästhetisch aber einen eigenen Weg ein, der zwischen einem harten Sozialrealismus und einem märchenhaften Überschreiten des Faktischen liegt.

Der Film umreißt gleich zu Beginn einen Raum der Intimität - die Kamera schmiegt sich geradezu an die Körper, an die Mädchenknäuel und ihren Singsang aus Tuscheleien. Die Gruppe wird als wohliger Kontrast erfahren: Einerseits hilft sie gegen die traurige Vereinzelung im kleinbürgerlichen Mädchenzimmer. Andererseits macht sie die allgemeine Provinzlangeweile erträglich.

Die Coulins haben die Ereignisse, die sich 2008 an einer Highschool in Massachusetts zutrugen, an die bretonische Küste verlegt, in die Hafenstadt Lorient, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Außer Fastfoodrestaurant und Kinderspielplatz wird den Teenagern dort wenig geboten. Allein der Strand und die kurvigen Landstraßen versprechen immer noch ein bisschen trügerische Freiheit.

Aus der Mädchenperspektive

Vor diesem Hintergrund, in dem Erwachsene nur als Randfiguren und Funktionsträger eine Rolle spielen, taucht man aus der Perspektive der Mädchen in die Erzählung ein: Auf die erste Schwangerschaft, Resultat eines Kondomunfalls, folgt eine zweite - mit Vorsatz. Auf die ersten Versprechen, die Freundin zu unterstützen, wenn das Baby da ist, folgt bald die Idee, sich zu einem Mütter-Kinder-Kollektiv zusammenzuschließen - getragen vom Wunsch nach einem Leben in Gemeinschaft, das die Einzelne im Kollektiv auffängt und zugleich als Individuum stärkt.

Das Vorhaben hat zunächst naiv-romantischen Charakter, allmählich gewinnt es subversives Potenzial, wird auch als kämpferisches Gesellschaftsexperiment lesbar. Die Energie, die die Mädchen gemeinsam entwickeln, erscheint manchmal unheimlich - auch die Filmemacherinnen hat schon zu Beginn des Projekts diese Ambivalenz fasziniert: der " Schneeballeffekt, die Anmutung einer Ansteckung".

Um ein psychologisches Fallbeispiel geht es 17 Mädchen nicht. Die elliptische Erzählung, die immer wieder mit seriellen Montagen und Tableau-vivant-artigen Einschüben arbeitet, erzeugt vielmehr eine Entdramatisierung und ein wenig Abstand. Punktuell mitgerissen wird man auf einer ganz physischen Ebene - vom Zusammenrücken, Loskreischen, Tanzen. Ein ähnlich rauschhaftes Ausleben von Mädchen-Allmachtsfantasien hat man seit Peter Jacksons Heavenly Creatures wohl nicht mehr gesehen.   (Isabella Reicher, DER STANDARD, 13.6.2012)