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81 Millionen Menschen in Europa leiden unter neuropsychiatrischen Krankheiten.

Foto: AP/Mike Todd

Prag - Die geradezu epidemische Ausbreitung neuropsychiatrischer Erkrankungen in Europa nimmt weiter zu. "Nach jüngsten Hochrechnungen des European Brain Council stehen wir in den 27 EU-Staaten plus Schweiz, Norwegen und Island zur Zeit bei 81 Millionen Betroffenen, also fast 16 Prozent der damit erfassten 514 Millionen Europäer", betont Heinz Reichmann (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden), Präsident der Europäischen Neurologengesellschaft (ENS). Rund 3.000 Experten aus aller Welt diskutieren beim ENS Kongress in Prag neueste Entwicklungen aus ihrem Fachgebiet.

Angst, Kopfschmerz, Schlafstörungen

61,3 Millionen Europäer leiden an Angststörungen, fast 50 Millionen an Migräne, 45 Millionen an Schlafstörungen, 33,3 Millionen an Gemütserkrankungen ("mood disorders"), 20 Millionen an somatoformen Störungen, 15,5 Millionen an Abhängigkeiten, 6,3 Millionen an Demenz. Dazu kommen noch schwere Erkrankungen wie Epilepsie (2,6 Millionen), 1,3 Millionen Schlaganfälle pro Jahr (insgesamt betroffen: an die 7 Millionen), Morbus Parkinson (1,2 Millionen), Multiple Sklerose (rund 540.000), neuromuskuläre Erkrankungen (260.000) und 1,2 Millionen traumatische Gehirnverletzungen.

Schwerpunktthema Parkinson

Neueste Erkenntnisse zum Morbus Parkinson, einer der häufigsten degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, sind ein Themenschwerpunkt des Europäischen Neurologenkongresses in Prag. Eine der auf dem ENS 2012-Kongress präsentierten Neuigkeiten: Morbus Parkinson nimmt seinen Ausgang nicht in den motorischen Zentren des Gehirns, sondern in Nervenzellen des Geruchsinns und pflanzt sich Zelle für Zelle weiter fort: Zunächst in Richtung Magen und von dort über den Nervus Vagus zum Gehirn.

"Dieses Wissen gibt uns vielleicht einmal die Möglichkeit, die Krankheit noch viel früher zu entdecken und ihre Ausbreitung zu unterbinden", so Reichmann. "Was die Gründe des Krankheitsausbruchs betrifft, diskutieren wir neu entdeckte genetische Risikofaktoren, schädliche Umwelteinflüsse wie Gifte, zum Beispiel Kohlenmonoxid oder Mangan uvm., oder Viren oder Bakterien. Am wahrscheinlichsten entsteht Morbus Parkinson durch das Zusammentreffen einer genetischen Vorbelastung, die eine erhöhte Empfindlichkeit auf Umwelteinflüsse bedingen könnte. Mit jedem derartigen Erkenntnisschritt kommen wir der Vision neuer genetischer Therapien sowie wirksamer Präventionsstrategien näher."

Hemmung des Krankheitsverlaufs

Ein Schritt in Richtung wirksamer Prävention könnte schon gelungen sein. "Während wir bisher der Meinung waren, dass die Standard-Therapie mit sogenannten Dopamin-Agonisten und MAO-Hemmern erst Sinn macht, wenn die Symptome zu Behinderungen führen, gibt es nun erstmals Studienergebnisse, die anderes zeigen: Die sofortige Behandlung mit den MAO-B-Hemmern Rasagilin, eventuell auch Selegilin, scheint einer Verschlechterung der Lebensqualität vorzubeugen", so Reichmann auf dem ENS-Kongress.

Bisher wurden die durch Morbus Parkinson hervorgerufenen unfreiwilligen Bewegungen (Dyskinesien) bevorzugt mit Dopamin-Agonisten anstatt mit Levo-Dopa behandelt, was jedoch zu unerwünschten Nebenwirkungen führt: "Sechs bis zehn Prozent der mit Dopamin-Agonisten behandelten Patienten entwickeln Impulskontrollstörungen wie Spiel-, Kauf-, Sex- oder Esssucht", so der Experte. "Neue Studien zeigen, dass diese durch die gleichzeitige Gabe von Levo-Dopa vermieden werden können. Wir diskutieren daher eine Optimierung der Leitlinien, um einen gleich hohen Therapieeffekt mit weniger Nebenwirkungen zu erzielen."

Erfolge mit neuen Strategien

Verbesserte, innovative Therapien dürften aber auch bald Patienten mit bereits fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung und entsprechend intensiven Dyskinesien zur Verfügung stehen. Erste Langzeitstudien belegen die Erfolge der Apomorphin-Pumpe, die über eine kleine, unter die Haut gesetzte Nadel kontinuierlich den Dopamin-Agonisten Apomorphin in die Blutbahn abgibt. Positive Ergebnisse gibt es auch für die L-Dopa-Pumpe, die diese Substanz über einen kleinen, implantierten Schlauch direkt in den Dünndarm einführt. Neue Langzeitstudien der Tiefen Hirnstimulation ("Gehirnschrittmacher") zeigen allerdings die Wirksamkeit und Grenzen dieser Therapie. "Entgegen unseren Hoffnungen können wir das Fortschreiten der Erkrankung damit nicht vollständig unterbinden", so Reichmann.

Immer mehr beschäftigt sich die Parkinson-Forschung auch mit verbreiteten Begleitsymptomen der Erkrankung. Die wichtigsten dieser Symptome: Verstopfung, Riechverlust , Doppel-Sehen, fettige Haut, exzessives Schwitzen, Impotenz, beziehungsweise bei Frauen Gefühlsarmut, Harninkontinenz, diffuse Schmerzen, Depression, Freudlosigkeit, Demenz. "Neueste Untersuchungen zeigen, dass diese Symptome, vor allem Depression und Demenz, die Patienten mehr Lebensqualität kosten als die Bewegungsstörungen", so der Experte. "Wir müssen daher die konsequente Erhebung und Behandlung auch dieser Parkinson-bedingten Phänomene fordern. Noch nicht bei allen ist dies wirksam möglich, aber wir haben gute Medikamente gegen Depression, Verstopfung und übermäßige Schweißentwicklung. Der Ausbruch von Demenz lässt sich verzögern und gegen Riechverlust ist ein neuer Wirkstoff in Erprobung, der diesen zumindest etwas bessern können dürfte." (red, derStandard.at, 11.6.2012)