Deutschunterricht in der 4c vom Enslein-Platz: Bewährte Schulbücher seien heute passé, weil sie keiner mehr versteht, sagt Lehrerin Sabina Bulant. "Die Kinder haben keine Worte im Kopf."

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Wien - Sabina Bulant lässt keinen Schlendrian einreißen. "Heast, jetzt schaltets ein bisserl das Kopferl ein", mahnt die Lehrerin, als auch bei der dritten Frage wieder nur die üblichen vier Verdächtigen aufzeigen. Seit Tagen nimmt die Klasse jetzt schon das Kriegsende durch, doch das Wort "Kapitulation" klingt in manchen Ohren immer noch fremd. "'Scheiße' ist keine Antwort", verbessert Bulant ein rätselndes Mädchen, den Burschen in Reihe eins maßregelt sie: "Warum tratschst du jetzt?"

Früher hätte sich Toni* diese Schelte nicht gefallen lassen. Trotzig wäre er aufgesprungen, um seinen Klassenvorstand anzuschreien. So oft ist der Bub ausgezuckt, dass sich auf Schulausflügen niemand zu ihm ins Zimmer legen traute. Hatte sich Toni erst einmal in ein Opfer verkrallt, konnte er eine Kraft entwickeln, die für eine einzelne Lehrerin unmöglich zu bändigen war.

Sorgenschüler

Toni war eines jener Sorgenkinder, die vor drei Jahren einen Hilferuf ausgelöst haben. In einem Brief an den Landesschulinspektor hatten die Lehrer vom Josef-Enslein-Platz aufgelistet, wie viele ihrer 380 Schützlinge auf verstörende Weise auffielen. Pro Jahrgang kamen sie auf eine zweistellige Zahl an Schülern, die von "Heulattacken", "Selbstdarstellungsneurosen" oder jähen "Zornausbrüchen" geplagt waren.

Der STANDARD hat den hellen Zweckbau im Bezirk Favoriten, eine durchschnittliche Wiener Hauptschule, damals besucht. Engagiert zeigten sich die Lehrer, stolz auf die moderne Pädagogik in ihrer "offenen" Schule, aber auch zunehmend überfordert - weil ihre Möglichkeiten "am Schultürl" endeten.

Sozialarbeit

"Die Kinder schleppen heute einen Sack an Problemen mit in die Schule", sagt Bulant. Nicht wenige davon bekam die 46-Jährige - rot gefärbter Kurzhaarschnitt, Tattoo am Knöchel - in 18 Berufsjahren aufgeladen. Von Raufereien und Verbalaggressionen erzählt Bulant, von Pöbeleien gegen Ausländer und Mobbing via Facebook. Sie hat ordinäre Väter - "Gehen S' in Orsch!" - erlebt, hilflose Mütter, die kein Wort Deutsch sprechen, und Kinder, die an elterlichen Rosenkriegen zu zerbrechen drohten. Ehe da an Lernstoff zu denken sei, sagt sie, "ist viel soziale Feinarbeit nötig".

Schlichten, reden, diskutieren: Weit über das Läuten der Pausenglocke hinaus nähmen die Kids sie in Anspruch, erzählt die Lehrerin. Doch wie helfen, wenn man die meiste Zeit auf sich allein gestellt bleibt? Fängt ein Schüler zum Heulen oder Toben an, kann Bulant die restlichen 24 anderen trotzdem nicht links liegenlassen. Teamteaching gibt es aber nur in drei von vier Wochenstunden in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch. Wird ein Kollege krank, sind die Zusatzkräfte die Ersten, die zum Supplieren in die Nebenklasse abgezogen werden.

An diesem Mittwoch, in der morgendlichen Deutschstunde, hat das Tandem gehalten. Liebesgedichte sollen die in Gruppen durcheinandergewürfelten Buben und Mädchen der 4c schreiben, da reimt sich Lust auf Brust und Luft auf Himmelsduft. "Lies laut mit deiner männlichen Stimme vor!", bittet Bulant einen Schüler - und verleitet ihre Kollegin zu einer Spöttelei: "Was für eine männliche Stimme?"

Demonstriertes Liebkosen

Mit Schmäh und Strenge manövrieren die beiden Pädagoginnen die Viertklässler durch die 50 Minuten. Unentwegt spazieren sie durch die Reihen, spornen die Kinder an, beantworten Fragen - notfalls auch per Anschauungsunterricht. Wer weiß, was "Liebkosen" heißt? Die Lehrerinnen umarmen sich und drücken sich Küsschen auf die Wangen.

Früher hätte sie einen Begriff wie diesen nicht erklären müssen, sagt Bulant: "Die Kinder haben keine Worte mehr im Kopf." Verstümmelte Alltagssprache à la "Gemma Billa" sei keineswegs nur bei Migrantenkids gang und gäbe, so manch bewährtes Schulbuch heute kaum noch verwendbar - "weil es niemand versteht".

Vorlesen ist nur ein Ritual, das Bulant in den Familien vom Aussterben bedroht sieht. Sie hat den Eindruck, dass viele Eltern, vielleicht selbst unter immer größerem Arbeitsdruck, kaum noch ausführlich mit ihren Kindern reden. Aus allen Wolken fielen Mütter und Väter beim Elternsprechtag. Keinen Satz hört Bulant öfter als "So ist er zu Hause nie!".

Scheinbar Hoffnungslose

Die Schule am Enslein-Platz ist heute etwas besser gewappnet, für die Familien einzuspringen, als noch vor drei Jahren. Eine spezialisierte Beratungslehrerin steht nun elf Stunden die Woche für Krisenfälle parat. Das Teamteaching soll ausgebaut werden, zumindest auf das Niveau vor dem Kahlschlag der 2000er-Jahre. Neu sind auch die Schulsozialarbeiter. In Wien kümmern sich 27 um 95.000 Volks- und Hauptschüler, dazu kommen 24 Schulpsychologen. "Immer noch wahnsinnig wenig", schüttelt Bulant den Kopf.

Stehen die Lehrer der Hauptschulen, wo in Wien nur noch jene landen, die sich partout nicht durchs Gymnasium drücken lassen, also auf verlorenem Posten? Berauschende Bilanzen kann Bulant keine präsentieren, von 25 Schülern traut sie drei "mit gutem Gewissen" den Weg zur Matura zu. Aber für gescheitert hält sie sich am Ende der vier Schuljahre nicht - weil sich Erfolg nicht nur in korrekter Grammatik und gelösten Gleichungen messen lasse.

Da ist zum Beispiel Ermir, einer der scheinbar Hoffnungslosen. Mit vereinten Kräften ließ sich verhindern, dass der herrische Vater den Buben, dem er schon wegen läppischer Vergehen zur Strafe den Kopf rasiert hat, mit zurück ins völlig fremde Albanien nimmt. Wie ein Ziehsohn hat Ermir Anschluss an eine eingesessene Familie gefunden und es zum stellvertretenden Schulsprecher gebracht. Die Chancen auf eine Lehre stehen gut.

In die Gänge gekommen ist auch Martin, ein Bub mit Detailkenntnissen des TV-Spätprogramms, der stets nur vor sich hin dämmerte; täglich fragt die Lehrerin nach, ob er eh gefrühstückt hat. Selbst zum geistesabwesenden David, der sich mit dem Zirkel die Haut aufritzte und mit Vorliebe Totenköpfe zeichnete, hat sie einen Draht gefunden. Es brauchte viele Monate, aber mittlerweile reagiert der Bursche, wenn man ihn anspricht. Neulich war sogar der Vater, der einst noch mit dem Anwalt drohte, in der Sprechstunde.

Auf den Lehrplan pfeifen

"Soziale und emotionale Kompetenz" hätten die Mädchen und Buben in den vier Jahren aufgebaut, sagt Thomas Bulant, Sabinas Ehemann und Mathematiklehrer der 4c: Konflikte eskalierten nicht mehr automatisch zur Keilerei, die Kinder wüssten um die Schwächen des anderen, weideten diese aber nicht aus. "Gänsehaut" bekamen die Lehrer beim Schulausflug nach Auschwitz - vor dem Denkmal bei den Krematorien hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Auf dem Weg zu einem "wertvollen Bestand der Gesellschaft" sieht Bulant seine Schützlinge: "Ist das erreicht, kann man darauf pfeifen, dass der Lehrplan nicht auf Punkt und Beistrich erfüllt ist."

Auch Toni ist nicht mehr der eigenbrötlerische Außenseiter von früher. Die Hänseleien haben aufgehört, sogar Freunde hat er gefunden. Zwar bebt der Bub mit dem Lippenflaum manchmal immer noch vor Wut. Doch dann geht er zur Lehrerin - und fährt nicht einfach nur die Faust aus. (Gerald John, DER STANDARD, 11.6.2012)