Barbara Bronnen: "Meine Väter"
332 Seiten, Insel Verlag (2012)

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Ein Gespräch über Großvater, Vater, Politik und Drama.

Standard: Frau Bronnen, die Auseinandersetzung mit Ihrem Vater, dem Schriftsteller Arnolt Bronnen, zieht sich durch Ihre schriftstellerische Laufbahn. Bereits in Ihrem Debütroman Die Tochter befassten Sie sich 1980 mit Ihrem Vater. Haben Sie Ihr Leben lang unter Ihrem Vater gelitten?

Bronnen: Das würde ich nicht sagen. Ich habe ihn auch geliebt. Aber ich war nicht nur mit einer Geschichte der Ideologien des letzten Jahrhunderts konfrontiert, sondern auch mit lauter Rätseln. Das andere war seine Arbeit, die mich interessierte. Ich bekam mit, wie er Sätze verwarf, die er am Tag vorher gutgeheißen hatte, und wie er am übernächsten Tag auch die Korrektur verwarf. Das war Werkstattunterricht. Hinzu kam die Berufung meiner Mutter auf seinen Erfolg. Beides hat mich dem Schreiben gegenüber stabiler gemacht.

Standard: In Ihrem neuen Buch Meine Väter wenden Sie sich neben dem Vater Ihrem Großvater Ferdinand Bronner zu, um dem Geheimnis um die Herkunft Ihres Vaters auf die Spur zu kommen. Warum ist Ihnen an der Aufklärung dieses Geheimnisses so gelegen?

Bronnen: Es hat mich beschäftigt. Die Reaktion meines Vaters, dieses gewaltsame Ablehnen, und das Verschweigen in der Familie haben mich gereizt. Ich wollte herausfinden, was es mit diesem angeblich lebenslangen Hass, der sogar zu einem Vaterschaftsprozess führte, auf sich hatte. Dieser Prozess hatte unter dem Aspekt der Nazi-Herrschaft auch politische Gründe. Aber ich begriff lange nicht, worum es ging. In den vergangenen zwölf Jahren nahm ich zweimal Anlauf, mich mit der Geschichte meines Großvaters und dessen Beziehung zu meinem Vater zu beschäftigen, legte das Manuskript aber jedes Mal wieder weg. Ich war noch nicht so weit.

Standard: Dieser Großvater wurde 1867 zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie in Oswiecim geboren. Sie sind hingefahren, um aus der Umgebung, in der er aufwuchs, etwas über seine Person zu erfahren. Außer einem Geburtsnamen aber hat Ihnen diese Reise keine Antworten gebracht, zumal die Nationalsozialisten die Stadt durch die Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau nahezu völlig zerstört haben ...

Bronnen: Den richtigen Namen Eliezer Feivel Bronner bestätigt und seine Frau und seine Kinder dokumentiert zu finden, das war schon etwas. Ich verdanke das meinem polnischen Begleiter, einem Dozenten von der Jagiellonen-Universität. Er war beharrlich und schlug vor, unter den Militärakten nachzusehen. Der Besuch in Oswiecim hat mir viel gegeben, auch wenn die Stadt entstellt und ohne Seele ist. Mich in ihre Geschichte zu vertiefen und sie der heutigen Stadt gegenüberzustellen war aufschlussreich. Oswiecim war einst eine lebendige Stadt, berühmt für Intellektuelle, Wunderrabbis und jüdischen Witz.

Standard: Erschütternd ist der unverhohlene Antisemitismus in der österreichisch-ungarischen Monarchie, den Sie in Ihrem Buch schildern. Sehen Sie darin die Ursache für den Wunsch Ihres Großvaters, seine jüdische Herkunft zu verleugnen?

Bronnen: Ja, er war unterprivilegiert, solange er als Jude galt. Der Antisemitismus trieb damals schon Blüten, vor allem in Wien. Daher wollte der Großvater voll anerkannt "ein Deutscher" sein, wie man das nannte. Dazu gehörte auch der Übertritt zur protestantischen Religion.

Standard: War der Lebenslauf Ihres Großvaters mit all seinen Brüchen und Geheimnissen typisch für das ausgehende 19. und 20. Jahrhundert?

Bronnen: Durchaus. Da kommt ja jetzt noch so manches Verschwiegene zum Vorschein. Es gibt viele aus der jüngeren Generation, die versuchen, das aufzuklären und sich mit den Großeltern zu befassen. Dabei tauchen mehr jüdische Großväter auf, als man dachte. Selbst nach 1945 war es ein Problem, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen, auch in Österreich.

Standard: Den Versuch der Lösung von seiner jüdischen Herkunft verarbeitete Ihr Großvater in dem autobiografischen Drama Familie Wawroch ...

Bronnen: Auch sein nächstes Stück, die Komödie Schmelz, der Nibelunge, hat diese missglückte Assimilation zum Thema - sein Lebensthema überhaupt. Er löste den Konflikt mit einem Vatermord. Damit brachte er ein Thema auf die Bühne, das zu jener Zeit zweifellos up to date war. Es war ein Erfolg - fast war es so, als ob er mit dem Aufgreifen der jüdischen Thematik weniger Jude wäre. Er war nicht der Einzige, der den Schritt vollzog, statt des mosaischen Glaubens eine christliche Religion anzunehmen. Aber es war vielleicht selten, sich ein Leben lang - auch in seinen Erinnerungen - als "Arier" zu stilisieren.

Standard: Während die Stücke Ihres Vaters Arnolt Bronnen gelegentlich in Spielplänen auftauchen, sind die Stücke Ihres Großvaters (unter dem Pseudonym Franz Adamus) zur Gänze vergessen. Dabei schrieb er mit  Familie Wawroch, dem Beginn seiner Trilogie Jahrhundertwende, eines der ersten naturalistischen Dramen.

Bronnen: Ich habe vom Großvater nie ein Stück auf der Bühne gesehen. Aber er war als Dramatiker nicht ungeschickt. Seine Stücke sind gut gemacht. Der Dialekt mag ein Problem darstellen. Obwohl Gerhart Hauptmann auch im schlesischen Dialekt schrieb und nicht ganz vergessen ist. Nur war er so klug, gleichzeitig eine hochdeutsche Fassung anzubieten. Beim Großvater gab es nach dem ersten großen Erfolg ein sehr schnelles Wiederverschwinden. Der Erste Weltkrieg kam und eine Depression nach dem Tod seines Sohnes Rudolf, den er Österreich geopfert hatte, und es trat als Nachfolger sein Sohn Arnolt Bronnen auf den Plan, der mit seinem Stück Vatermord einen rasanten Erfolg hatte und ihm vorführte, wie man so etwas anpackt. Damit war mein Großvater weg vom Fenster.

Standard: Über Ihren Vater urteilte der Literaturwissenschafter Hans Mayer, er sei kein Faschist, auch kein Kommunist gewesen. Gehörten seine ideologischen Wandlungen vom Anarchismus zum Kommunismus und zum Faschismus und wieder zurück und zum Katholizismus zu jenen merkwürdigen intellektuellen Konversionen, die im 20. Jahrhundert nicht selten waren?

Bronnen: Mein Vater war kein politischer Mensch. Aber er wurde mit extremen politischen Situationen konfrontiert. Er suchte etwas, und er suchte es immer anderswo. Vielleicht suchte er immer das Gleiche. Gefunden hat er es nie. Das ist das Traurige an seinem Leben. 1954 ging er in seinem Versuch, Kommunist zu sein, in die DDR. Aber letztlich konnte er sich mit dem System nicht identifizieren.

Standard: Wäre es für ihn besser gewesen, in Österreich zu bleiben?

Bronnen: In Österreich wurde er missachtet und links liegen gelassen. Das hing natürlich mit dem Kampf gegen den jüdischen Vater zusammen, den er nach außen hin jahrelang verbissen geführt hatte, und mit der feindseligen Haltung der Wiener Juden, die an der Wiener Scala, dem KP-Theater, engagiert waren. In der DDR, in die viele Emigranten zurückkehrten, war es ähnlich. Man hat ihm diesen Prozess gegen den Vater nie verziehen. Er veröffentlichte noch ein paar Bände. Er verfasste den sehr guten und überhaupt nicht geschätzten Roman Aisopos, und er schrieb Tage mit Bertolt Brecht. Darin vergegenwärtigte er die Zwanzigerjahre. Es erschien der Band Begegnungen mit Schauspielern, und seine Biografie arnolt bronnen gibt zu protokoll wurde wieder aufgelegt. Auch ein Sammelband seiner Stücke kam heraus. Aber er wollte als Dramatiker aufgeführt werden. Und das ist nicht passiert. Stattdessen beauftragte man ihn, Kritiken für die Berliner Zeitung über Aufführungen im Westen zu schreiben.

Standard: Gerhard Zwerenz sagte über Ihren Vater, seine Zeit werde wieder kommen. Glauben Sie das auch?

Bronnen: Ich weiß es nicht. Vieles ist zeitgebunden. Es gab immer mal wieder kleine Anläufe. Der Roman O. S. über die Kämpfe der Freischärler in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg kam wieder heraus. Der Roman Aisopos müsste wiederentdeckt werden. Und auch das Stück Die Kette Kolin über die österreichische Widerstandsgruppe gleichen Namens, deren Mitglieder im April 1945 aus dem Konzentrationslager Gneixendorf entkamen, könnte man heute wieder spielen.

Standard: "Je älter sie wird, desto dringlicher wird es ihr, Bescheid zu wissen", schreiben Sie. Hört das Fragen nach der Herkunft nie auf?

Bronnen: Jetzt ist es dann beendet. Ursprünglich wollte ich nur die Geschichte des Großvaters schreiben. Dann hat mich all das Liegengelassene beim Vater, von dem ich meinte, es sei aus dem Weg geschafft, so gedrängt, dass ich es wieder aufnahm. Wiederholen und erinnern - im Grunde die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzte Richtung, als Schritt nach vorn. Wie kam es, dass beim Prozess beide als "Arier" hervorgingen? Indem die beiden Dramatiker, Vater und Sohn, unter Todesgefahr ein abgekartetes Spiel inszeniert haben, ein "Rassespiel". Hätten sie es nicht gewagt, wäre mein Großvater dort gelandet, wo er geboren wurde, in Auschwitz. Ich wäre nie geboren worden.   (Adelbert Reif, Album, DER STANDARD, 9./10.6.2012)