Die Projektleiterin besichtigt ihren Arbeitsplatz von oben: Judith Engel auf dem Aussichtsturm beim neuen Hauptbahnhof. Unter ihr jene Gleise, die noch heuer in Betrieb gehen sollen.

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Wir treffen uns im Info-Zentrum auf einer Bahnhofsgroßbaustelle. Ist das typisch für Wien?

Engel: Ich finde hier einiges typisch für Wien. Bahnhöfe waren für Wien schon immer prägend. Bahnlinien kommen zusammen, Menschen kommen zusammen. Die Baustelle ist ja für Wien auch irgendwo prägend. Jeder Wiener hat schon einmal eine Baustelle vor der Haustüre gehabt. Dicht verbaut ist es hier auch. Wienerischer als hier geht es kaum.

STANDARD: Ende des Jahres werden die ersten Gleise in Betrieb genommen. Wie, glauben Sie, wird der Bahnhof die Gegend verändern?

Engel: Rund um den Bahnhof entsteht ein neues Stadtgebiet, das so groß ist wie der 8. Gemeindebezirk, es entsteht quasi ein Bezirk in einem Bezirk. Das ist sicher eine unglaubliche Veränderung. Als wir den Südbahnhof gesperrt haben, sind sehr viele Leute zu uns gekommen und haben uns ihre Erinnerungen an den Südbahnhof erzählt. Man glaubt gar nicht, was für Emotionen mit Bahnhöfen verbunden sind. Insbesondere natürlich mit dem Südbahnhof, wo es meistens in die Ferien gegangen ist. Bei den älteren Anrainern natürlich auch emotionale Verbindungen mit Krieg und Rückkehr. Das Projekt wird natürlich die Struktur der Bezirke total verändern. Die Eisenbahn war die längste Zeit eine Barriere zwischen den Bezirken. Da entstehen jetzt neue Durchlässe, Brücken, neue Wege.

STANDARD: Wozu braucht eine Stadt einen Hauptbahnhof?

Engel: Zum Beispiel zum Wegfahren und Ankommen?

STANDARD: Aber wieso "Hauptbahnhof", wenn gar nicht alle Verbindungen hier zentral durchführen? Paris hat auch keinen.

Engel: Ich denke, die Lage von Wien in Europa ist hier von Relevanz. Im Zentrum von Europa, zwischen dem Osten und dem Westen: Wien hat so ein bisschen Drehscheibenfunktion. Wien hatte auch historisch gesehen immer diese besondere Funktion. Als Verbindung zwischen den Himmelsrichtungen. Und da ist ein Hauptbahnhof ein wichtiges Element, das Sie natürlich auch in Zusammenhang mit anderen Eisenbahnbauprojekten, etwa dem Lainzer Tunnel, sehen müssen.

STANDARD: Was hat das Projekt bis jetzt gekostet?

Engel: Die Gesamtinvestitionen, die die ÖBB tätigt, sind derzeit mit ungefähr einer Milliarde Euro geschätzt. Wir haben bisher circa zwei Drittel dieser Gelder vertraglich gebunden und zum Teil auch schon ausgegeben, im Wesentlichen für Bautätigkeiten. Im Moment befinden wir uns im Plan. Ich hoffe, das bleibt auch so.

STANDARD: Es gibt Schätzungen, die von 1,3 Milliarden sprechen - weil die Altlastensanierung teurer sei als erwartet. Was sagen Sie?

Engel: Die 1,3 Milliarden kann ich nicht nachvollziehen, das entspricht nicht unserem Wissensstand. Die Altlasten wussten wir ja. Es wäre naiv gewesen zu glauben, dass wir weder Fliegerbomben noch kontaminiertes Erdreich hier im Projekt haben. Wir haben auch schon in der ersten Planungsphase Bodenerkundungsarbeiten durchgeführt und sind auf diese Altlasten nahezu planmäßig gestoßen, weil die ja in den alten Plänen verzeichnet waren. Das haben wir in die Planung mit aufgenommen.

STANDARD: Es gab viel Kritik, weil die U-Bahn-Station Südtiroler Platz nicht direkt an den Hauptbahnhof anschließt. Warum nicht?

Engel: Unserer Meinung nach ist die U-Bahn-Station beim Hauptbahnhof. Der Hauptbahnhof ist gegenüber dem alten Südbahnhof weiter nach Westen gewandert, und dadurch ist die Verbindung zur U1-Station wesentlich kürzer geworden. Wir haben Ende 2010 ein neues unterirdisches Bauwerk unter dem Gürtel eröffnet, das die Verbindung zur U-Bahn auf kürzestem Weg sicherstellt. Wir haben Verbindungslängen, die vergleichbar sind mit dem Westbahnhof zwischen Eisenbahn und U-Bahn, und außerdem haben wir, noch näher, die S-Bahn-Stammstrecke als hochleistungsfähiges Verkehrsmittel angebunden.

STANDARD: Bekommt die Flughafen-Schnellverbindung CAT einen eigenen Bahnsteig?

Engel: Nein, das wird am Hauptbahnhof nicht so sein.

STANDARD: Es scheiterte nur an der Finanzierung?

Engel: Das war eine Entscheidung von CAT, die wir zur Kenntnis genommen haben, hier keinen exklusiven Bahnsteig am Hauptbahnhof zu wollen. Nichtsdestoweniger wird es eine Flughafenverbindung geben, nur wird sie von der ÖBB selbst betrieben werden.

STANDARD: Ist das nicht absurd?

Engel: Ich denke, eine Stadt wie Wien verträgt auch mehrere Flughafenanknüpfungspunkte. Es ist die Innere Stadt ein wichtiger, das ist der Hauptbahnhof aber auch aufgrund seiner Verbindungen. Ich denke, es hat beides eine Berechtigung. Welcher Firmenname jetzt oben steht, CAT oder ÖBB, ist ein anderes Thema.

STANDARD: Wird es möglich sein, auch am Hauptbahnhof bereits das Gepäck einzuchecken?

Engel: Das ist derzeit nicht vorgesehen, es kann aber noch kommen.

STANDARD: Eine Studie des Instituts für Raumplanung 2006 monierte, der Hauptbahnhof sei zu klein dimensioniert. Ist das so?

Engel: Die Studie wurde ja gerade verwendet, um dann in der Planung umgesetzt zu werden. Diese Studie war einer der Parameter, die wir verwendet haben, um darauf die Dimensionierung aufzusetzen. Sie hat gezeigt, dass die Hauptlast der Passagierströme im westlichen Bahnsteigdrittel sein wird. Dem haben wir auch Rechnung getragen, z. B. in der Dimensionierung der Rolltreppen.

STANDARD: Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass weiter Güterzüge durchfahren werden. Warum hat man da nicht ein Ausweichgleis gebaut?

Engel: Der Güterverkehr fährt vorläufig durch den Hauptbahnhof durch auf einem gesonderten Gleis, das heißt nicht direkt am Bahnsteig. Man wird sehen, wie sich die Projekte rund um Wien entwickeln, es könnte sein, dass der Güterverkehr langfristig gar nicht mehr durch Wien durchfährt.

STANDARD: Sie meinen also auch: Ideal ist das nicht.

Engel: Ideal ist es nicht. Innerhalb von Wien den Güterverkehr anders zu führen hätte das Problem freilich nicht gelöst. Insofern ist es natürlich die langfristig sinnvollste Option, den Güterverkehr überhaupt aus der Stadt herauszubringen. Im Projekt ist er berücksichtigt, weil es momentan so ist und das sowohl hinsichtlich Sicherheit als auch in Sachen Lärm und Erschütterung ein Thema ist.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, es habe Vorteile als Frau in einem Männerberuf. Wo sind die?

Engel: Es gibt besondere Herausforderungen, und es gibt Vorteile. Das sehe ich nach wie vor so. Die Vorteile bestehen einfach darin, dass man als Frau nach wie vor ein gewisses Alleinstellungsmerkmal hat. Wenn Sie als Frau in einem Besprechungsraum mit 15 oder 20 Männern sind, dann haben Sie automatisch ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Das kann lästig und unangenehm, es kann aber auch ein ganz großer Vorteil sein.

STANDARD: Sie werden auf der ÖBB-Homepage zitiert, Sie wollten nach der Matura Ihr technisches Interesse beruflich einsetzen. Woher kam dieses Interesse?

Engel: Das kann ich so dezidiert nicht beantworten.

STANDARD: Sie sind immerhin familiär vorbelastet.

Engel: Ja, das natürlich schon. Mein Vater war Professor auf der TU Wien auf der Fakultät für Bauingenieurwesen. Allerdings war er eher der, der versucht hat, mir das auszureden. Er war ein bisschen skeptisch, als ich ihm eröffnet habe, dass ich an der TU studieren möchte. Bis zur Matura hat sich einfach herausgestellt, dass mir Naturwissenschaften und Mathematik liegen.

STANDARD: Warum hat Ihr Vater versucht, Ihnen das auszureden?

Engel: Heute meint er, um zu prüfen, ob ich das wirklich wollte. Seine Argumente waren, es sei ein sehr langes und schwieriges Studium, als Frau in der Männerwelt würde ich es nicht einfach haben, und familienfreundlich sei der Beruf auch nicht.

STANDARD: Und, hatte er recht?

Engel: Zum Teil. Es ist kein 9-to-5- Job, aber das ist möglicherweise kein Job, der wirklich Spaß macht. Und ich kann mir nichts Vielseitigeres und Interessanteres vorstellen als Bauingenieurwesen.

STANDARD: Es gibt bei der ÖBB ein Frauennetzwerk?

Engel: Ja.

STANDARD: Sind Sie dabei?

Engel: Immer wieder.

STANDARD: Und? Hilft's?

Engel: Kann helfen. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 8.6.2012)