In Österreich grassiert Politikverdrossenheit, darüber herrscht seit längerem Übereinstimmung wie sonst nur über wenige Themen. Die Ursache des Leidens soll in einem Mangel an direkter Demokratie liegen. Verfolgt man den anschwellenden Gesang der diversen Böcke, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Wurzel des Problems dort liegt, wo die Verdrossenheit am größten ist, nämlich in der Verdrossenheit der Politik über sich selbst.

Am Volk kann es nicht liegen. Wer mit der Forderung nach mehr unmittelbarer Teilhabe an der Ausgestaltung des Allgemeinwohls den Pawlow'schen Stammtischreflex hervorkitzelt, kann mit einer Zustimmung rechnen, deren Begeisterung in der Realität durch nichts gedeckt ist. Als "die Politik" der Bevölkerung mit der Verlängerung der Legislaturperiode das aktive Wahlrecht beschnitt - kein empörter Aufschrei. Nicht einmal jetzt, wo wir es schwarz auf weiß haben, dass keineswegs besser regiert wird, nur weil es bis zur Abrechnung fünf statt vier Jahre dauern darf.

Als besorgte und politisch erfahrene Persönlichkeiten ihre Demokratie-Initiative "Mein Österreich" starteten, werden sie nicht gedacht haben, dass sie bis zuletzt zittern müssten, um die 8300 Unterschriften für ihr Volksbegehren zusammenzukratzen. Warum sollte man sich seine Verdrossenheit auf komplexere Weise, durch einen Gang aufs Magistrat, nehmen lassen, wenn man sie auch einfacher äußern kann, indem man bei der nächsten Wahl Populisten auf den Leim geht?

An den Experten aus Justiz und Politologie kann es auch nicht liegen. Je mehr sich die Parteien direktdemokratisch überkugeln, desto häufiger sind deren Warnungen vor systemfremden Verfassungsänderungen, unklaren Verantwortlichkeiten und plebiszitären Vorwahlkämpfen zu vernehmen. Zwischen den Bedenken des Bundespräsidenten, der auch als Experte spricht, und dem Draufgängertum eines von seiner Partei als Hoffnungsträger verkauften Jungpolitikers, der, bei angenehmer Erscheinung, in Fragen des Parlamentarismus wohl noch als Grünschnabel gelten darf, wabert die Debatte vor sich hin und am Kern der Verdrossenheit vorbei.

Wenn ÖVP-Obmann Michael Spindelegger die Österreicher unbedingt noch vor der Nationalratswahl darüber abstimmen lassen will, ob sie künftig mehr verpflichtende Volksabstimmungen wollen sollen - und zwar ohne dass ein derart weitreichender Eingriff in die Verfassung samt allen möglichen Folgen auf breiter Basis ausdiskutiert wäre -, merkt man die Absicht der Popularitätshascherei. Zu glauben, man könnte Bürgerin und Bürger mit dem großspurigen Versprechen, sie auf diese Art von Bevormundung zu befreien, als Wähler gewinnen, ist ohnehin Illusion. Demokratiereform als Ersatzhandlung für wenig begeisternde Regierungsleistung, als Ablenkung von Korruption auf höchster Ebene und ihrer skandalös schleppenden Aufarbeitung, wird an der Verdrossenheit als politischer Volkskrankheit nichts ändern. Schon gar nicht, wenn das Heil dieser Reform darin bestehen soll, dass Politiker die Entscheidungen, die zu treffen sie gewählt und bezahlt sind, den Wählern zurückwerfen. Nur keine Verantwortung! (Günter Traxler, DER STANDARD, 8.6.2012)