Heute gleicht die Umgebung des Novarupta, der am 6. Juni 1912 ausbrach, einer von Kleinkratern übersäten Mondlandschaft.

Foto: USGS/C. Nye, Alaska Division of Geological and Geophysical Surveys

Der 6. Juni 1912 war ein heißer Sommertag für Alaska-Verhältnisse. Die Kinder in Katmai, einem beschaulichen Dorf in Südwestalaska, spielten auf den Wiesen, die Frauen bereiteten Seelachs fürs Mittagessen zu. Niemand ahnte etwas Schlimmes. Dann begann die Erde zu beben, eine gewaltige Eruption erschütterte die Region.

Der Ausbruch des Novarupta war die gewaltigste Eruption des 20. Jahrhunderts. Auf dem Vulkanexplosivitätsindex mit einer Skala bis 8 kam der Ausbruch auf Stärke 6. Die Krakatau-Explosion 1883 stand auf derselben Stufe. Nur zweimal in den letzten 100.000 Jahren gab es einen Vulkanausbruch der Stufe 8.

Knall mit Verzögerung

Der Knall der Novarupta-Explosion war so laut, dass sogar die Bewohner in 1000 Kilometern Entfernung aufgeschreckt wurden. Der Schall erreichte sie eine Stunde später. Der Vulkan spie Schutt und Asche, eine riesige Rauchwolke zog über den Horizont.

Das 500-Seelen-Kaff Katmai lag am nächsten am Epizentrum. Die Bewohner mussten eilig evakuiert werden. Mit einem Schiffskutter wurden sie auf die Insel Afognakpak verbracht. Doch die Aschewolke ließ sich nicht aufhalten.

Jessie Petellin besuchte im Jahr 1912 die achte Klasse der örtlichen Schule. Ihre Erinnerungen hielt sie in einem Tagebuch fest: "Auf einmal wurde es so dunkel, dass man kaum noch die Hand vor dem Gesicht erkannte - obwohl wir zwei Laternen bei uns hatten." Die Asche erschwerte das Atmen, die Augenlider verklebten.

Jessie verbrachte die ersten beiden Nächte in einer Kirche. "Am dritten Tag sahen wir zum ersten Mal die Sonne wieder. Wir wussten gar nicht, dass es die Sonne war, sondern dachten, es wäre der Mond. Dann kehrten wir nach Hause und alles sah so anders aus: Unsere Kuh war ganz weiß. Alles war trüb und voller Staub." Eine Schuttschicht von 30 Zentimetern lag über den Häusern, Dächer stürzten ein.

Es ist wohl glücklichen Umständen und der dünnen Besiedlung der Halbinsel zu verdanken, dass nur ein Dutzend Menschen ums Leben kam. Zum Vergleich: Beim ähnlich starken Ausbruch des Krakatau starben 30.000 Menschen. Während der Eruption wurden 15 Kubikkilometer Magma aus dem Erdinneren geschleudert. Die Folge: Die oberen Erdschichten sackten in sich zusammen - ein riesiger Krater entstand.

Keine Frühwarnungen

Frühwarnungen gab es 1912 noch nicht, die Wissenschaft der Vulkanologie stand erst am Anfang. Erst im Jahre 1918 gelangte ein Expeditionskorps um den Geologen Robert Griggs zur Ausbruchsstelle. Ein Teilnehmer notierte in sein Logbuch: "Nachdem wir den Gipfel des Katmai-Passes erreicht hatten, breitete sich eine riesige Lava-Landschaft vor uns aus. Ich dachte nur: Wir haben das moderne Inferno vor uns." Die Erde war noch warm, unter den Füßen der Forscher brodelte es.

Heute gleicht der Katmai-Nationalpark einer Mondlandschaft. Erst 1950 stellten die Forscher fest, dass Novarupta - und nicht Katmai - die Hauptausbruchsstelle war. Geologen konstatierten, dass die größte Kammer nicht, wie anfänglich vermutet, unter dem Krater, sondern zehn Kilometer entfernt lag. Neuere Untersuchungen zeigen, dass vom Ausbruch des Novarupta eine Sogwirkung ausging, die mit dazu beitrug, dass der Vulkankegel des Katmai in die entleerte Magmakammer stürzte.

Der Vulkanausbruch zeitigte Folgen für das kontinentaleuropäische Klima. Die Temperaturen lagen deutlich unter dem Jahresdurchschnitt, einen richtigen Sommer gab es nicht. Auch im Herbst blieb es kalt. Im September 1912 registrierten Meteorologen eine Durchschnittstemperatur von 8,4 Grad. Zum Vergleich: Im September 2011 lag das Temperaturmittel bei 16,4 Grad Celsius.

Kann es in Alaska noch einmal zu einer schweren Eruption kommen? Die Vulkanologin Judith Fierstein, die den Ausbruch des Novarupta seit Jahren erforscht, schließt ein solches Szenario nicht aus. In einer Studie schreibt sie: "Die Möglichkeit eines Ausbruchs in der Größenordnung des Novarupta ist zwar gering, aber vulkanische Aktivitäten werden in Alaska mit Sicherheit eintreten." Die Frage ist nur, wie stark diese sein werden. (Adrian Lobe, DER STANDARD, 6./7.6.2012)