Immer, wenn die russischen Bürger en masse auf die Straße gehen, so wie es momentan passiert, stehen die Dinge für die Machthaber nicht gut.

1917 musste der russische Kaiser Nikolaus II. nach massenhaften Protesten abdanken und den Weg für die bolschewistische Revolution freigeben. 1991 brach die Sowjetunion - ein scheinbar unzerbrechlicher Monolith - innerhalb nur weniger Monate zusammen. Hunderttausende gingen gegen die Hardliner auf die Straßen, die gegen Gorbatschows Perestroika geputscht hatten.

Nun ist Putin an der Reihe. Seine notorische Behauptung, dass das Land ihn unterstütze, weil es "Stabilität" wolle, und dass die angeblich von "westlichen Strohmännern" angeführten Proteste am Abklingen seien, wird gerade von der Geschichte als Mythos widerlegt: Die Proteste gehen weiter. Und die Ernennung von Igor Cholmanskich zum Regenten der riesigen Uralregion - dem Vorarbeiter einer Panzerfabrik, der angeboten hatte, mit einer kräftigen Gruppe von Arbeitskollegen nach Moskau zu kommen und Putins Regime zu verteidigen - schreckt sie nicht ab. Heute hat "soft power" die Oberhand, und das Internet lässt sich nicht durch Panzer abschalten.

Angesichts der Nominierung seines neuen Kabinetts werden Putins sowjetische Wurzeln nur zu offensichtlich. Wie einst unter Leonid Breschnjew werden die inkompetente Bürokraten zwischen verschiedenen Posten hin und her geschoben. Dies widerlegt einen weiteren Mythos - dass Putin, nun zurück an der Macht, seine vulgäre antiwestliche Rhetorik aufgeben und zum Reformer werden würde, der versteht, dass nur ein demokratisches Russland seine territoriale Integrität und Souveränität behalten kann.

Und der Grund dafür, dass er keine Reformen zulassen wird, ist , dass er es nicht kann, da sich die alte Binsenweisheit, dass absolute Macht absolut korrumpiert, wieder einmal als wahr erwiesen hat. Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht ist die russische Führungsriege nicht mehr in der Lage, bessere Politik zu machen. Ihre persönlichen Interessen und Reichtümer sind zu sehr davon abhängig, den Status quo aufrechtzuerhalten.

Natürlich ist dieses Muster für Russland nichts Neues. Ich werde nie vergessen, was meine Großmutter Nina über den korrumpierenden Einfluss der Macht in unserer eigenen Familie sagte. "Leider war der Chruschtschow von 1962 nicht mehr der Chruschtschow von 1956." Mein Großvater hat den Personenkult um Stalin abgelehnt, nur um dann für seine "Übervision" der Verringerung des Imperialismus und des Gleichziehens mit dem Westen verehrt zu werden - beispielsweise in dem völlig übertriebenen Dokumentarfilm "Unser Nikita Sergejewitsch" von 1961.

Chruschtschows Selbstbeweihräucherung stand in völligem Widerspruch zu seiner vorherigen Entstalinisierungskampagne, deren Kernaussage war, Stalin habe den Kommunismus verraten, indem er völlig in die Fußstapfen der Monarchen der Vergangenheit getreten sei. Alles, was offiziell über ihn gesagt wurde, war voller Allmachtsfantasien und Superlative: "bester Freund der sowjetischen Athleten", "Vater aller Kinder der Erde" usw. Dies ist die bombastische Sprache der absoluten Monarchie.

Als Jelzin dann 1990 die Führung Russlands übernahm, machte er es zu seiner ersten Amtshandlung, alle Nomenklatura-Privilegien an den Pranger zu stellen. Als er 2000 den Kreml verließ, wurde sein geheimes Vermögen aus Immobilien, Yachten und anderen Besitztümern auf 15 Millionen US-Dollar geschätzt.

Im Jänner 2000 gab der neue Präsident Putin im russischen TV eine Reihe überzeugender Interviews, wo er den Rechtsstaat pries und versprach, nach seiner zweiten Amtszeit oder ohne die Unterstützung der Öffentlichkeit keinen Tag länger im Amt zu bleiben. Dies seien die "Spielregeln der Demokratie", sagte er.

Nun ist Putin fast dreizehn Jahre an der Macht und 40 Prozent der Bevölkerung wollen ihn loswerden. Wenn sich die Geschichte auch nur ansatzweise wiederholt, kann die Zahl nur wachsen. (Nina Chruschtschowa, DER STANDARD, 5.6.2012)