"Je länger ein Rennen dauert, umso kleiner wird der Unterschied zwischen Mann und Frau"

Foto: Horst von Bohlen

STANDARD: 19. April 1967. Der Marathon in Boston. Woran erinnern Sie sich?

Switzer: Ich kann mich an alles erinnern, an jede Sekunde, als wäre es gestern passiert. Ich weiß noch, wie sehr ich erschrocken bin, als mich der Renndirektor Jock Semple attackierte. Wir hatten erst vier Kilometer zurückgelegt.

STANDARD: Wieso ging Semple auf Sie los?

Switzer: Er war Teil eines Systems, und in diesem System war nicht vorgesehen, dass Frauen Marathon laufen. Semple war jähzornig, er war ein überarbeiteter, müder Renndirektor, und sein Rennen war ihm wichtig, beinahe heilig. Er hasste es beispielsweise, wenn Männer in Verkleidung antraten. Er dachte, sie würden ihn zum Narren halten. Und das dachte er auch über mich.

STANDARD: Wie haben Sie den Angriff überstanden?

Switzer: Ich weiß noch, dass mein Coach schrie, Semple solle mich in Ruhe lassen. Sie ist okay, rief er, sie hat sich ordentlich vorbereitet. Mit und neben mir lief mein damaliger Freund, er war Footballer und später Hammerwerfer, er hat Semple von der Straße befördert. Und wir sind weitergelaufen.

STANDARD: Die Bilder dieses Vorfalls sind um die Welt gegangen.

Switzer: Es war Zufall, dass uns kurz zuvor der Pressebus mit den Fotografen überholt hatte. Auch dieser Zufall trug dazu bei, dass sich an diesem Tag mein Leben verändert hat.

STANDARD: Wie sind Sie zur Startnummer gekommen, wenn Frauen nicht teilnehmen durften?

Switzer: In der Ausschreibung stand ja gar nicht, dass Frauen ausgeschlossen waren. Aber ich hatte Angst, sie würden mich nicht zulassen, hab mich deshalb nur mit meinen Initialen eingetragen. K.V. Switzer. Deshalb dachten sie, ich wär ein Mann. Viele Männer haben sich mit ihren Initialen angemeldet. Ich hab meinen Namen oft abgekürzt, ich wollte ja Schriftstellerin werden, K. V. Switzer hatte einen guten Klang, das klang fast wie T. S. Eliot. Die Initialen waren die eine Sache, die andere war das schlechte Wetter. Es war saukalt, deshalb hatte ich eine Trainingshose und eine Jacke an. Ansonsten hätten sie mich wohl schon am Start entdeckt.

STANDARD: Haben Läufer in Ihrer Umgebung bemerkt, dass neben ihnen eine Frau am Start steht?

Switzer: Viele haben das bemerkt, aber denen war das ganz egal, die waren alle sehr freundlich zu mir. Läufer haben Läuferinnen nie Probleme gemacht, es waren immer die Offiziellen, die Funktionäre, die uns die Steine in den Weg geworfen haben.

STANDARD: Wie konnten Sie den Marathon beenden?

Switzer: Zunächst hatte ich Angst, dann war ich enttäuscht, und schließlich bin ich wütend geworden. Wieso hat Jock Semple gedacht, ich wäre ein Clown? Ich musste es ihm zeigen, musste unbedingt diesen Marathon beenden. Sonst hätte es wieder und wieder geheißen, dass Marathon nichts für Frauen ist.

STANDARD: War das Ihre Motivation, an den Start zu gehen? Ging es Ihnen um Frauenrechte?

Switzer: Frauenrechte spielten in meinen Überlegungen noch gar keine Rolle, das wurde erst später daraus. Ich spielte Hockey, bin gelaufen, um fit zu sein. Meine Teilnahme war eine Belohnung durch meinen Coach. Er hat mir nicht zugetraut, dass ich einen Marathon schaffen würde, er meinte, Frauen sind nicht hart genug. Ich hab trainiert wie wild und hab ihn vom Gegenteil überzeugt. Also haben wir uns angemeldet.

STANDARD: Und nach dem Rennen waren Sie ein anderer Mensch?

Switzer: Dieser Marathon hat alles verändert, mein Leben und in der Folge das Leben von sehr vielen anderen Frauen. Das war der Beginn einer Revolution. Ich sag oft, ich bin in den Marathon als junges Mädchen gestartet und hab ihn als erwachsene Frau beendet. Auf der Heimfahrt hielten wir sehr spät in der Nacht an, um einen Kaffee zu trinken. Am Nebentisch hat ein Mann eine Zeitung gelesen, und auf einmal sah ich das Bild, mein Bild, in der Zeitung. In der Bibliothek meiner Universität lagen viele Zeitungen aus der ganzen Welt auf. Die hab ich dann durchgesehen, und sehr viele von denen hatten das Bild aus Boston gebracht.

STANDARD: Hatten Sie später noch Kontakt zu Jock Semple? Hat er sich bei Ihnen entschuldigt?

Switzer: Wir sind später eigentlich fast Freunde geworden. Entschuldigt hat er sich nie. Er brummte nur, dass er doch nie etwas gegen Frauen gehabt habe. Doch es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Jock Semple danke. Er hat dieses Foto kreiert, mich zu einem Symbol gemacht. Zumindest hat er dazu beigetragen. Später hat er mir fast leidgetan. Ich wusste, in seinem Nachruf würde vor allem von diesem Angriff auf mich die Rede sein und nicht von all seinen Verdiensten um den Boston-Marathon. Und so war es dann leider auch, als Jock 1988 gestorben ist.

STANDARD: Wie hat sich der Frauenmarathon nach 1967 entwickelt?

Switzer: Es hat noch fünf Jahre gedauert, bis Frauen offiziell in Boston laufen durften. Die Medien waren immer auf unserer Seite, 1972 gab es große Publicity. Sponsoren wie Johnson's Wax sprangen auf, so kam es in New York ebenfalls 1972 zum ersten reinen Frauenlauf über zehn Kilometer. Er hat am 3. Juni 1972 stattgefunden - witzig, dass der Frauenlauf in Wien vierzig Jahre später genau auf dieses Datum fällt. Jedenfalls haben wir damals immer mehr Frauenrennen organisiert. Fünf km, 20 km, 30 km und jedes Jahr einen Marathon, immer in einer anderen Stadt. 1981 fiel die Entscheidung, dass Frauenmarathon 1984 olympisch sein würde. Das war der Durchbruch. Schließlich war das IOC lange ein Gegner des Frauensports gewesen. Das ging auf Pierre de Coubertin zurück, der Frauen nur zuschauen, aber nicht teilnehmen lassen wollte.

STANDARD: Ist es immer noch wichtig, Frauenläufe zu organisieren?

Switzer: Ja. Weil alle fünf Jahre eine neue Generation von Frauen zum ersten Mal läuft. Die werden durch den Frauenlauf motiviert. Fünf Kilometer sind mit ordentlicher Vorbereitung machbar. Egal, wie alt, wie jung, wie dick oder dünn eine Frau ist. Im Feld gibt es immer eine andere, die dicker ist oder älter. Viele, die fünf Kilometer laufen, laufen später längere Strecken, auch Marathon. Aber der erste Schritt ist wichtig.

STANDARD: Laufen Frauen anders als Männer?

Switzer: Männer haben mehr Kraft, Speed und Härte, das ist klar. Aber Frauen haben Ausdauer. Je länger ein Rennen dauert, umso kleiner wird der Unterschied zwischen Mann und Frau. Man sollte nicht vergessen, dass Männer seit 2500 Jahren, Frauen aber erst seit hundert Jahren Sport betreiben. Laufende Frauen beeinflussen die Gesellschaft. Kenianische Marathonläuferinnen haben mit den Preisgeldern, die sie gewannen, Schulen und Spitäler errichtet. In Japan hat es 3000 Jahre lang nur Helden gegeben, keine Heldinnen. Aber japanische Marathonsiegerinnen werden wie Rockstars verehrt.

STANDARD: Und doch wird ein großer Teil der industrialisierten Welt immer dicker, während ein kleinerer Teil immer sportlicher wird.

Switzer: Man kann sich nur bemühen, etwas dagegen zu tun. Es ist ja pervers, dass es genügend Nahrung geben würde, um die ganze Welt zu ernähren, und die einen haben zu viel, und die anderen haben zu wenig. Wenn man in einem Lokal etwas zu essen bestellt, bekommt man meistens viel mehr, als nötig wäre, um satt zu werden. Aber wir alle haben gelernt, dass man erst aufsteht, wenn man aufgegessen hat. Es ist extrem wichtig, die Frauen für Sport und für Ernährungsfragen zu interessieren. Weil es ja meistens sie sind, die eine Familie ernähren.

STANDARD: Aber ist Laufen auch sexy genug im Vergleich mit Computerspielen, mit Chatten, von mir aus mit BMX-Rad fahren?

Switzer: Laufen ist cool. Und sexy. Und gesund. Hier schließt sich der Kreis, weil es nämlich cool ist, gesund zu sein. Überernährung ist ein Problem, das die Gesellschaft mehr kosten wird als das Rauchen. Wer läuft, ist entspannt, ist fit. 30.000 Frauen laufen am Sonntag in Wien. Das ist cool. (Fritz Neumann, DERSTANDARD, 2/3.6.2012)