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Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjalla im Jahr 2010 legte für einige Tage den Flugverkehr lahm.

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Man kann sie nicht vorhersagen, sich aber bis zu einem gewissen Grad dagegen absichern, meint ein amerikanischer Systemtheoretiker und Bestsellerautor

In nicht einmal zwei Jahren haben wir gewaltige soziale Umbrüche in Nordafrika und dem Nahen Osten erlebt, dazu die Abkehr von den militärischen Einsätzen in Afghanistan und im Irak, die Bedrohung der Eurozone sowie eine Rekordarbeitslosigkeit in der EU.

Die alten Regeln scheinen außer Kraft zu sein, doch niemand weiß, wie die neuen aussehen werden. Sie werden gerade in Echtzeit geschrieben, in einem Prozess, der viele zutiefst verunsichert, Angst macht und Widerstand erzeugt. Das geschieht gleichzeitig in allen sozialen Schichten.

Die wichtigste Frage ist derzeit, wie man mit solchen Extremereignissen, die ich X-Events nennen möchte - umgeht. Diese Ereignisse sind selten, kommen plötzlich, kosten Geld oder Menschenleben und erzeugen Angst. Um sich gegen X-Events abzusichern, muss man sich davon verabschieden, sie vorauskalkulieren zu wollen. Derartige "game changers", die die Spielregeln unseres Lebens radikal verändern, werden wir niemals mit der Präzision vorhersagen können, wie wir sie aus den Naturwissenschaften gewohnt sind.

Ich gehe davon aus, dass nahezu jedes X-Event sich letztlich auf eine Überlastung von Komplexität in einer oder mehreren menschlichen Infrastrukturen zurückführen lässt. Doch selbst wenn wir diese Ereignisse nicht genau vorhersagen können, so können wir sie doch voraussehen. Was kann man also konkret tun, um solche Schocks zu verstehen und sich auf sie vorzubereiten?

Bei einem X-Event muss man wissen,

  • wie es sich konkret abspielen könnte,
  • wie es sich auf die Gesellschaft auswirkt und
  • was wir heute schon tun können, um es nicht nur zu überleben, sondern sogar noch zu profitieren.

Das waren zentrale Fragen einer Studie, die ich mit Kollegen letztes Jahr für politische Entscheidungsträger und Unternehmer in Finnland durchführte. Einige "Highlights" der Studie zeigen, wie wir mit diesen Fragen in einer realen Situation umgehen können.

Sieben Szenarien

An der Studie nahmen insgesamt 22 Regierungsbehörden und Unternehmen teil, die bestrebt sind, sich heute schon vor einem unsicheren Morgen zu schützen. Sie erhielten eine Liste mit etwa 15 X-Events, die im Lauf der nächsten zehn Jahre eintreten könnten, und wurden gebeten, daraus die fünf für sie gravierendsten Schocks auszuwählen. Die Studie konzentrierte sich auf jene sieben Schocks, die am häufigsten genannt wurden:

  • Die Nokia-Zentrale wandert aus Finnland ab.
  • Zwei der drei wichtigsten forstwirtschaftlichen Unternehmen verlassen Finnland, und das dritte schließt aufgrund der EU-Emissionsstandards seine Zellstoff- und Papierwerke im Land.
  • Unvorhersehbare Internet-Zusammenbrüche häufen sich.
  • In China kommt es aufgrund sozialer Spannungen zu großen politischen Unruhen.
  • Die Europäische Währungsunion zerbricht.
  • Jahrhunderthochwasser und -dürren haben verheerende Auswirkungen auf Europa.
  • Die Energiepreise fallen um 90 Prozent.

Das überraschendste Ereignis wäre das letzte: ein Verfall der Energiepreise. Dieses Mikroszenario könnte wie folgt ablaufen:

Aufgrund strenger Förderbeschränkungen der Opec steigt das Interesse an alternativen Energien. Erste Ergebnisse sind vielversprechend. Frische Investitionen beschleunigen die kommerzielle Nutzung alternativer Energieformen in verschiedenen Teilen der Erde.

In der Folge fließen enorme Summen in die neue Energieerzeugung, worauf allgemein mit dem Verfall des Strompreises um 90 Prozent gerechnet wird, was wiederum zur rasanten Entstehung von Technologien führt, die bei erhöhtem Energieverbrauch knappe Güter produzieren, darunter auch künstliche Nahrung. Doch es führt auch zum Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige und zu massiven inneren Spannungen in erdölexportierenden Ländern wie Russland, Saudi-Arabien und dem Iran.

Sobald ein Szenario geschaffen ist, können wir dessen Folgen für die finnische Wirtschaft einschätzen. Dafür greifen wir auf verschiedene Instrumente zurück: Zum einen beurteilen Experten die Auswirkungen des Schocks auf unterschiedliche Wirtschaftsbereiche, zum anderen wird mittels großangelegter Computersimulationen durchgespielt, wie das Ereignis weiterwirkt und in den Folgejahren unterschiedliche Bereiche der finnischen Wirtschaft beeinflusst.

Neue Infrastrukturen

In der letzten "großen Frage" auf unserer Liste geht es darum, was man heute tun kann, um Infrastrukturen zu schaffen, die solche Schocks abfedern können. Dazu wurde eine Reihe von 25 unterschiedlichen Strategien entwickelt, die diese finnischen Einrichtungen jetzt setzen könnten, um Vorsichtsmaßnahmen gegen "unbekannte Größen" zu schaffen.

Sie reichten von allgemeinen Schritten wie Investitionen zur Erhaltung des Vertrauens in Regierung und Gesellschaft bis zu konkreteren Aktionen wie dem Wechsel zu einer geldlosen Tauschwirtschaft. Mit Methoden der robusten Portfolioanalyse wurde eine Tabelle erstellt, die anzeigt, welche Kombination dieser 25 Strategien für eine Organisation am attraktivsten wäre.

Für eine Einrichtung, die sich nur einen einzelnen Schritt in ihrem Portfolio leisten kann, ist etwa die Investition in den Aufbau sozialer Infrastruktur am attraktivsten.

Dagegen sind für eine solche Institution direkte wirtschaftliche Maßnahmen wie der Wechsel zu einer Tauschwirtschaft, das Aufgeben der Forstwirtschaft oder die Förderung von mehr Atomkraft die am wenigsten produktiven Vorgehensweisen, um künftigen Schocks begegnen zu können.

Der grundlegende Prozess, auf dem "Sieben Schocks für Finnland" basiert, hat wenig mit Finnland an sich zu tun - abgesehen von der Definition der konkreten X-Events. Der Prozess hat generell wenig mit einem bestimmten Land zu tun, sondern ließe sich genauso gut auf ein Staatenkollektiv wie die EU oder die Opec, ein bestimmtes Unternehmen (Nokia), einen bestimmten Wirtschaftszweig (Sieben Schocks für das Bankwesen) oder auch auf einen besonders vermögenden Menschen (Sieben Schocks für Mr. Big) anwenden.

Projekt in Südkorea

Die Fragen sind dieselben, auch wenn die jeweiligen X-Events und ihre Auswirkungen jeweils unterschiedlich beurteilt werden müssen. Aus der finnischen Studie ist zum Beispiel ein analoges, derzeit laufendes Projekt in Südkorea entstanden. Ähnliche Analysen für Japan und die US-Pharmaindustrie werden ebenfalls diskutiert.

Und was ist mit Österreich? Wie ließe sich dieser Ansatz auf "game changers" anwenden, die in den nächsten zehn Jahren eintreten und das Leben hierzulande beeinflussen könnten? Aus ein paar Gedankenexperimenten und einigen Kaffeehausgesprächen ergab sich rasch eine Liste potenzieller Schockauslöser. Diese sind:

  • Das deutsche Wachstum bricht zusammen.
  • Ein Vulkanausbruch oder eine Änderung des Golfstroms führt zu einer Mini-Eiszeit in Europa.
  • Die Europäische Währungsunion bricht zusammen.
  • Die Energiepreise fallen um 90 Prozent
  • Ein Bienensterben hat verheerende Auswirkungen auf die österreichische Landwirtschaft.
  • Unvorhersehbare Internet-Zusammenbrüche häufen sich.
  • Eine große österreichische Bank bricht zusammen.
  • In einem grenznahen Atomkraftwerk kommt es zu einer Explosion von Tschernobyl-Dimensionen.
  • Eine Reihe sehr warmer Winter führt zu einem massiven Rückgang der Schneedecke in den Alpen.
  • Die Wasserversorgung in Wien bricht zusammen / das Trinkwasser wird vergiftet.
  • Die Austrian Airlines gehen in Konkurs.

Ein markanter Rückgang des Wirtschaftswachstums in Deutschland könnte interne oder externe Ursachen haben - zum Beispiel ein vollständiges Auseinanderfallen der Eurozone oder das Wegfallen globaler Exportmärkte aufgrund einer globalen Depression. Ein Verlust des Vertrauens in die Regierung verursacht soziale Unruhen und politische Spannungen, die die deutsche Volkswirtschaft zerstören. Am wahrscheinlichsten würde ein starker Wachstumsrückgang wohl durch eine Kombination solcher Faktoren hervorgerufen werden, möglicherweise verstärkt durch andere X-Events, etwa den Klimawandel.

Angesichts der Tatsache, dass Deutschland mit fast 30 Prozent Österreichs wichtigster Handelspartner ist, läuft die österreichische Wirtschaft schon Gefahr, sich eine Lungenentzündung zu holen, wenn die deutsche Wirtschaft hustet. Umgekehrt ist die Situation noch schlimmer, da mehr als 40 Prozent der österreichischen Exporte nach Deutschland gehen.

Kein schönes Bild

Es ergibt sich kein schönes Bild: leere Skipisten in den Alpen, ein verlassener Stephansplatz, geschlossene Kleidungs- und Juweliergeschäfte in der Mariahilfer Straße. Und das wären nur die äußeren Zeichen einer abrupten Verlangsamung des deutschen Wirtschaftsmotors.

Österreich müsste Maßnahmen ergreifen, um die wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland zu reduzieren. "Erschließt neue Märkte, um euer Risiko zu streuen!" ist leicht gesagt, doch konkrete Schritte hängen von unzähligen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Überlegungen ab, sodass eine ausführliche Studie nötig wäre, um das Problem für jede betroffene Einrichtung im Detail zu betrachten.

Bei den anderen Ereignissen auf der Liste fällt auf, dass zwei davon - warme Winter und eine Mini-Eiszeit - in Gegensatz zueinander stehen. Beide Szenarien kann man sich relativ leicht vorstellen, wenngleich aktuelle Daten mehr auf eine globale Erwärmung und warme Winter hinweisen. Die Auswirkungen für Österreich wären in beiden Fällen freilich dieselben: kein Skifahren mehr im Winter, häufigere Hochwasser im Frühling und eine wesentlich geringere Nahrungsmittelproduktion im Sommer.

Sich den Konkurs der Austrian Airlines auszumalen erfordert nicht viel Fantasie. Im Grunde genommen muss die AUA einfach nur so weitermachen wie bisher. Mancherorts ist zu hören, dass der Flughafen Wien damit seine Hoffnungen begraben könnte, sich als wichtiger Knotenpunkt zu etablieren.

Verschlankte Fluglinie

Man könnte aber auch auf den Konkurs der Swiss Air im Jahr 2001 verweisen. Im Schweizer Fall verschwand die alte Fluglinie und wurde rasch durch eine neue, schlankere, wettbewerbsfähige Linie, die Swiss, ersetzt - ohne spürbaren Schaden für den Flughafen Zürich als wichtigen Verkehrsknotenpunkt.

Diese Geschichte ist ein guter Schlusspunkt, denn sie zeigt, dass X-Events nicht zwingend schlecht sein müssen. Kurzfristig ist der Preis, der für einen wirtschaftlichen Zusammenbruch oder den Konkurs einer Fluglinie zu zahlen ist, tatsächlich ein negativer Schock - vor allem für jene, die existenziell davon betroffen sind.

Aus der Distanz betrachtet, zeigt sich allerdings, dass die meisten dieser Schocks in eine Kategorie fallen, die der berühmte österreichische Ökonom Joseph Schumpeter als "kreative Zerstörung" bezeichnete. Er sagte: Das Alte muss vollständig verschwinden, damit das Neue entstehen kann.

Der Mensch steht jeglichem Streben nach Verschlankung zumeist sehr widerstrebend gegenüber - sogar wenn es um seine eigene Taille geht. Ab einem gewissen Punkt baut sich daher ein unausweichlicher - zum Beispiel sozialer - Druck auf, der durch ein X-Event eine Verschlankung erzwingt.

Die Idee eines widerstandsfähigen sozialen Systems bedingt die Erkenntnis, dass diese Ereignisse unausweichlich sind und weder vorhergesagt noch vermieden werden können.

Umsichtige Entscheidungsträger werden deshalb schon heute detaillierte Pläne entwickeln, um die neuen Freiheitsgrade zu nutzen, die ein solches X-Event für morgen eröffnet. Dafür benötigen die Planer jedoch eine klare Vorstellung davon, welche Arten von X-Events eintreten könnten und welche Möglichkeiten sie bieten - und die Erkenntnis, dass am Beginn des Erfolges immer ein Scheitern steht. (John Casti, DER STANDARD, 30.5.2012)