Vom Mingbocun ist nur noch das Eingangszeichen übrig.

Foto: An Yan

Abrissviertel nördlich des Dianchi-Sees im Süden von Kunming.

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Der Kartoffelpfannkuchenverkäufer bangt um sein Zuhause.

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Ein Blick über einen Teil des Abbruchviertels.

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Der temporäre Markt.

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Das zweite Wohnzimmer für die temporäre Bevölkerung der Trümmerhäuser.

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Ein Poster ist alles, was vom Kinderzimmer übrig blieb.

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Die Kinder spielen vor dem Abrisszeichen.

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Das Riesenrad dreht sich immer weiter.

Foto: An Yan

Kunming soll eine moderne Stadt werden, die den Fortschritt der Provinz Yunnan verkörpert. Innerhalb von kürzester Zeit explodierte die Bevölkerungszahl der Stadt von zwei auf über sechs Millionen; die Stadtplaner reagieren darauf mit zahlreichen Neubauten.

Ausländer unerwünscht

Der alte Kartoffelpfannkuchenverkäufer packt meinen Pfannkuchen vorsichtig in eine Plastiktüte, nimmt meine fünf Mao und erzählt mir in gebrochenem Standardchinesisch, dass das Gebäude, in dem er wohnt, wahrscheinlich bald nicht mehr stehen wird. "Sie haben das gesamte Viertel abgerissen, um neue Wohnkomplexe zu bauen. Die neuen Gebäude sollen höher sein, schöner, moderner, sauberer. Unsere Wohnungen sind alt - aber sie sind billig."

Innerhalb von sechs Monaten war ich viermal in dem gigantischen Abrissviertel nördlich des Dianchi-Sees im Süden von Kunming; ich kenne den über 80-jährigen Verkäufer schon, er erinnert sich jedes Mal an den wohl einzigen Westler, der sich hierherverirrt. Jedes Mal erzählt er mir ein bisschen mehr, hält mich auf dem Laufenden über den Stand der Dinge in seinem Viertel. Nicht jeder hier ist so zuvorkommend; an einer der Baustellen ermahnt mich ein streng aussehender Herr in Uniform, er habe mich hier schön öfter fotografieren gesehen und ich solle mich hier nicht mehr blicken lassen. Die zuerst offene Baustelle wurde immer stärker abgeriegelt, und so kann ich sie mittlerweile tatsächlich nicht mehr betreten. Auf den meisten Baustellen wird kein Wert auf Fotografen oder gar schnüffelnden Ausländer gelegt - ich werde meist innerhalb von Minuten aufgefordert zu verschwinden.

Die letzten Tage der Apokalypse

Das Abrissgelände ist gigantisch groß - man kann stundenlang durch die Trümmerwüste laufen und gelegentlich auf Fundstücke wie Kinderspielzeug, Schüsseln, alte Schuhe und Bücher stoßen. Einige der Häuser stehen noch, einige sind bereits halb abgerissen. Manche sind schon geräumt, in anderen harren die Bewohner stur aus, auch wenn die Hälfte des Gebäudes bereits fehlt; jeden Tag den Bagger erwartend, der ihren Lebensraum für immer zerstört. Offiziell dürfen sie nicht mehr dort wohnen, offiziell wurde ihnen bereits vor Monaten der Räumungsbefehl erteilt. "Aber wo sollen wir denn hinziehen? Das habe ich die Räumungsbeamten gefragt. Das Geld, das wir als Kompensation bekommen, reicht nicht einmal für eine Küche in den neuen Gebäuden, geschweige denn für eine Wohnung. Außerdem haben sie bisher immer nur abgerissen, aber noch nichts Neues gebaut", erzählt mir der Pfannkuchenmann in einem sehr ernsten Ton, ohne eine Spur von Bitternis oder Klage.

Er weiß nun einmal einfach nicht, wohin; also bleibt er in dem abrissgefährdeten Gebäude bis zum Tag der Wahrheit. Die Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind, sind zu einem großen Teil gar nicht besonders alt oder baufällig; sie passen nur nicht in den Modernisierungsplan der Stadtregierung, die von blitzenden, funkelnagelneuen Großkomplexen träumt. Nicht wenige Bewohner haben sich gegen diese Sanierungen gewehrt - sie wollen in ihren Wohnungen bleiben oder wissen nicht, wohin. Gerüchte von Familien, die sich aus Protest von den Baggern plattwalzen ließen, kursieren immer wieder unter den Stadtbewohnern. Doch davon steht natürlich nichts in den Medien, und niemand kann mir diese Geschichten bestätigen.

In den noch stehenden Gebäuden hat sich eine Übergangsgesellschaft derer gebildet, die den Räumungen trotzen; jeder verfügbare Raum wird genutzt. In der ehemaligen Apotheke wird Gemüse verkauft, auf einem Trümmerfeld ist ein provisorischer Markt entstanden, auf dem mein Freund seine Pfannkuchen verkauft. In den halb abgerissenen Gebäuden kann man Reste von Kinderzimmern, Poster und Räucherstäbchengefäße finden, der Boden ist mit Unrat übersät. In der Nacht schlafen Obdachlose hier, machen sich wärmende Feuer und rauchen gegen die Dunkelheit. In den wärmeren Monaten standen ausrangierte Sofas auf den Trümmerhalden, wo die wenigen Anwohner sich noch immer zusammensetzen und ihre täglichen Schwätzchen inmitten der Gebäudeskelette halten. Es sieht aus wie nach der Apokalypse.

Die Zukunft ist ungewiss

Der Tag der Wahrheit liegt in unbestimmter Zukunft. Das Gelände ist zu drei Vierteln abgerissen, ein kleiner Teil der Gebäude steht noch. Das Kainsmal für "Abriss" ziert jeden Hauseingang, die Kinder spielen davor, nicht wissend, dass es früher oder später das Ende ihres bisherigen Lebensraumes bedeuten wird.

Eigentlich hätte der Bau von neuen Komplexen schon vor einem Jahr beginnen sollen, doch die Firmen, die von der Regierung den Auftrag bekamen, haben bisher keinen Finger gerührt. "Einige sind pleitegegangen, einige haben an anderen Baustellen die Gebäude nicht fertigstellen können. Einige haben keine Arbeiter, andere zu viele, die sie nicht bezahlen können. Es ist alles eine Schande. Andererseits, wer weiß - vielleicht wird mein Haus letzten Endes gar nicht abgerissen!", freut sich mein alter Freund. (An Yan, daStandard.at, 30.5.2012)