Vor drei Jahren begrüßte Lehrerin Gruber den letzten Taferlklassler - dafür gibt's Intensivbetreuung wie in der Privatschule.

Foto: Der Standard/Corn

Er wird wohl der letzte Bauer am Familienhof sein: Seit 17 Jahren kämpft Bürgermeister Beren um jeden einzelnen Bewohner - doch gegen den " Speckgürtelwahnsinn" fühlt er sich machtlos.

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Bretstein - Für eine Schule ist es verdächtig still. Gang und Stiege sind verwaist, Türen versperrt, nur hinter einer regt sich Leben. In der Klasse steht Elfriede Gruber und schreibt in ebenmäßiger Schrift "Merkwörter" an die Tafel.

Viel Zeit hat Gruber für ihre Schützlinge. Vor neun Jahren, als sie ihren Dienst als Volksschullehrerin antrat, saßen noch 17 Kinder hinter den Pulten, heute sind es nur mehr sieben. Keine teure Privatschule biete eine derart intensive Betreuung, schwärmt die Pädagogin - optimal, wie das ganze Leben im Dorf. "Vor der Haustür beginnt die Alm", sagt Gruber und blickt durchs Fenster auf die in Löwenzahnblüte stehende Wiese. "Nur die Politik vermiest einem alles."

Die Politik: Das sind Franz Voves und Hermann Schützenhöfer, die " Reformpartner" der Steiermark. Abspecken wollen der rote Landeshauptmann und sein schwarzer Vize das Land - und dabei 36 Volksschulen schließen. " Da werden die Kleinen ruck, zuck wegrationalisiert", sagt Gruber.

Bretstein ist ans Zusperren gewöhnt. Der örtliche Greißler hat vor 20 Jahren aufgegeben, die Bank nicht viel später. Im Umland rückten Post und Polizei immer weiter weg, der "Strukturwandel" fraß die alten obersteirischen Industriejobs. Für eine Kiste Bier fahren die Bretsteiner zehn Kilometer, zum Gymnasium in Judenburg das Dreifache; seit dem Vorjahr ist der Postbus Geschichte. Wenn nun auch die Schule mit Sommerbeginn für immer die Pforten schließe, sagt Gemeindesekretär Heimo Haingartner, "dann werden wir abmontiert".

Haingartner spielt im Dorf das Mädchen für alles. Er ist Elektriker und Installateur in Personalunion, derzeit aber intensiv mit Widerstand gegen die politische Übermacht beschäftigt. Die steirischen Medien seien gleichgeschaltet, klagt er, die ÖVPler in der Regierung seit Ausbruch der Reformpartnerschaft keine Verbündeten mehr. "Doch das liebe Land wird sich noch wundern, wenn wir bis zum Verwaltungsgerichtshof gehen", sagt Haingartner - und weiß die in der Gemeindestube zusammengetrommelte Ortsprominenz hinter sich. "Schön langsam nehmen sie uns alles", meint Sägewerkbesitzer Horst Haingartner, Elternvertreterin Waltraud Lerchbacher warnt: "Sperrt die Schule zu, gibt es keine Bretsteiner Kinder mehr."

Bittere Briefe haben die Dörfler nach Graz geschickt, sie handeln vom stolzen Gemeindeleben, das mit der Schule zu sterben drohe. Jeder Zehnte ist bei der Ortsmusik, die Feuerwehr zähle genauso viele Freiwillige wie im 30-mal größeren Judenburg. Doch wenn die Schulkinder künftig in den Nachbarort müssen, "werden sie auch dort in die Vereine gehen, weil da ihre Freunde sind", glaubt Lerchbacher: "Dann wird es in Bretstein irgendwann keine Brauchtumspflege, keine Landjugend, keinen Sportverein mehr geben."

Ein Ort im Teufelskreis

Lerchbacher zählt sich zu den letzten "Patrioten", die für Heimatidylle die ewige Pendlerei in Kauf nehmen. 311 Unentwegte harren noch im langgestreckten Graben nördlich des Murtals aus, in den Fünfzigern waren es fast doppelt so viele. Allein in der letzten Dekade haben zehn Prozent der Bevölkerung das Weite gesucht, gelockt von kurzen Arbeitswegen, schicken Wohnungen und urbanem Komfort. Ein Teufelskreis: Mit jedem Landflüchtling schrumpft der staatlich zugewiesene Steueranteil. In der Kasse fehlt Geld, um den Ort in Schuss zu halten - was erst recht wieder Bürger vertreibt.

Wer in Bretstein bauen will, bekommt den Grund praktisch nachgeschmissen: Acht bis zehn Euro Euro kostet der erschlossene Quadratmeter. Seit 17 Jahren tue er nichts anderes, als um jeden einzelnen Meldezettel zu kämpfen, sagt Bürgermeister Hermann Beren, doch gegen den "Speckgürtelwahnsinn" sei er machtlos. Während zu Kreiskys Zeiten noch gezielt in abgelegene Gegenden investiert worden sei, fließe heute alles Geld in die Zentralräume. "Und wir", sagt Beren, "werden hier zu Tode reformiert. So ein Ort stirbt schneller, als man glaubt."

Jahrhundertealte Höfe säumen die frostzerbeulte Straße, die sich tief in die Wölzer Tauern hineinschlängelt, doch die Mauern bröckeln, die hölzernen Dachschindeln modern. Einige Anwesen stehen leer, in anderen halten in die Jahre gekommene Bauern ohne Nachfolger die Stellung. Einer von ihnen ist Hermann Beren.

Lange ist der Schnee heuer gelegen, die Kirschbäume fingen erst Mitte Mai zu blühen an. Doch nun platziert Beren, wie es der Brauch verlangt, einen geweihten Palmbuschen vor der Stalltür und treibt seine Kühe zum ersten Mal im Jahr auf die Wiese. Zehn Tiere sind es, zu wenig, um vom Milchverkauf zu leben. Der 58-Jährige ahnt, dass er der letzte Bauer am Hof sein wird. Sein Sohn studiert an der Boku in Wien. Einen gut bezahlten Akademikerjob wird er in der Gegend kaum finden - und schon gar keine Frau, die als Bäuerin die Landwirtschaft schupft.

Bonzen auf der Pirsch

Im Ersten Weltkrieg hatte es Berens Großvater, einen Letten, als Kriegsgefangenen in den Bretsteingraben verschlagen. Ein Vierteljahrhundert später waren es dann vor allem republikanische Spanier und deutsche Zeugen Jehovas, die hier schuften mussten: Die Nazis experimentierten an "Wehrbauernhöfen" für den "germanisierten" Osten und bauten ein KZ-Außenlager auf. Jahrzehntelang wurden die Gräuel totgeschwiegen, erst seit 2003 steht dank der Initiative einer Schulklasse unterhalb von Berens Hof eine Gedenkstätte. Der Bürgermeister spielt zwischen den Mauernresten den Guide - "Führer sag ich lieber nicht".

Eine Tradition ist geblieben: Wie seinerzeit Nazi-Bonzen von Hermann Göring abwärts, stellen Politpromis im Tal dem Rotwild nach. Die Ex-ÖVP-Chefs Wilhelm Molterer und Josef Pröll, erzählt Parteifreund Beren, seien ebenso im Revier des Industriellen Helmut Zoidl, eines der großen Waldbesitzer, auf der Pirsch gewesen wie Joseph Daul, oberster Konservativer im Europaparlament. Die hohen Herren sollten einmal darüber nachdenken, findet der Ortschef, dass nur jene Menschen den Erholungsraum erhalten, die hier auch leben können.

Anderen Kindern wegnehmen

Beren versucht, die Großgrundbesitzer für eigene Zwecke einzuspannen. Die Wasserrechte für ein Kleinkraftwerk auf dem Gebiet der Flick-Stiftung ließ er sich für 20.000 Euro Schulsponsoring abkaufen. Doch die Landesregierung winkt ab. Lehrer zu kaufen sei nicht vorgesehen, sagt Landesrätin Elisabeth Grossmann. Die Bretsteiner könnten höchstens eine Privatschule gründen, aber auch das sei wenig sinnvoll - zumal die Klassen in den Nachbarorten ebenfalls halb leer stünden.

Passiere keine wundersame Bevölkerungsexplosion, werde die Schule geschlossen, sagt die SP-Politikerin und argumentiert mit "gerechter Ressourcenverteilung": Da ein Lehrer für sieben Schüler gleich viel koste wie für 25, nämlich im Schnitt 55.000 Euro pro Jahr, kämen Minischulen unverhältnismäßig teuer. "Das ist Geld, das ich anderen Kindern wegnehmen muss", sagt Grossmann. "In Bretstein gibt es einfach zu wenige Schüler. Nächstes Jahr wären es überhaupt nur fünf."

Gemeindesekretär Haingartner bestreitet diese Rechnung - er kommt auf zwölf Schüler. "Die wollen uns zudrah'n und aus", glaubt er, schon weil die "Reformpartner" Handfestes vorweisen wollen. Als Nächstes drohe die " Liquidierung" der Gemeinde durch Fusion mit den Nachbarn, womit die zielgerichtete Wohnbauförderung flachfalle - und à la longue der Rückfall in Zeiten der Feudalherrschaft, als die Gegend noch " Finsterpöls"hieß. Die Großeigentümer und Jagdherren spitzten bereits auf frei gewordene Gründe, sagt Haingartner: "Irgendwann fällt dann am Talbeginn ein Schranken herunter." (Gerald John, DER STANDARD, 29.5.2012