Mario Cárdenas bei der Arbeit: Zehn Minuten dauert eine Putzsession. Zwanzig Pesos gibt es dafür, manchmal etwas mehr.

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Sein Arbeitsplatz ist keine zwei Meter lang und höchstens einen Meter breit. Der Stuhl aus gebogenem Stahlrohr, auf dem die Kundschaft von Mario Cárdenas Platz nimmt, ist auf einem fahrbaren Podest mit gerippter Blechbeschichtung montiert. Eine darüber gespannte Plane dient als Schutz gegen die herabbrennende Sonne.

Cárdenas ist Schuhputzer, einer von Tausenden in der Millionenmetropole Mexiko-Stadt. Er hat seinen Stammplatz an einer Straßenkreuzung unweit der Avenida Insurgentes, die die Stadt in Nord-Südrichtung durchschneidet. Mit knapp 50 Kilometern ist sie die längste Ortsstraße der Welt.

"Schon mein Vater und mein Großvater haben Schuhe geputzt. Meine Kinder sollen studieren, dafür arbeite ich bis zu zwölf Stunden am Tag", sagt Cárdenas.

Zehn Minuten dauert die Prozedur. Anders als beim Friseur bedarf es keiner Worte, um abzuklären, was am Ende herauskommen soll. Ein Wasserbehälter á fünf Liter, Putzfetzen in verschiedenen Größen, diverse Schuhcremes, Wachs und natürlich Bürsten für die Abschlusspolitur des Schuhwerks ist alles, was auf der mobilen Arbeitsfläche Platz finden muss. Der Rest ist Routine.

Pro geputztem Paar Schuhe gibt es 20 Pesos, umgerechnet 1,30 Euro. Das entspricht dem Gegenwert von vier Fahrten mit dem Bus oder der Metro. Manchmal gibt es etwas mehr. "Gute Arbeit wird geschätzt und belohnt", sagt Cárdenas, während er vom Arbeits- in den Kundenstuhl wechselt und sich eine Zigarette anzündet. Abends trete er ab und zu mit einer Folkloreband auf, spiele in Restaurants oder bei privaten Gesellschaften. Sein Instrument sei die Vihuela, die der Gitarre sehr ähnlich ist. Das bringe zusätzliche Pesos. "Von Mariachi allein wird meine Familie aber nicht satt", sagt Cárdenas bedauernd.

114 Millionen Mexikaner wollen es besser haben als ihre Väter und Urgroßväter. Glaubt man Umfragen, zeichnet sich für die Präsidentschaftswahlen am 1. Juli eine Rückkehr der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ab. Sie musste wegen Überheblichkeit, Korruption und Vetternwirtschaft im Jahr 2000 den Präsidentenpalast räumen - nach 71 Jahren ununterbrochener Präsenz an der Staatsspitze ein mittleres Erdbeben. Weder Vicente Fox noch seinem Nachfolger Felipe Calderón, beide vom christlich-demokratischen Partido Actión National (PAN), ist es gelungen, die Hoffnungen auf grundlegende wirtschaftliche und politische Reformen zu erfüllen. Zentrale Themen, die sich auf den Plakaten der wahlwerbenden Parteien finden, sind die schwache Konjunktur und steigende Kriminalität.

Unterdurchschnittliche Entwicklung

Wirtschaftswachstum und Reallohnentwicklung liegen deutlich unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt. Die Folge sind zunehmende Armut und eine Explosion informeller Beschäftigung zulasten regulärer Jobs.

Mario Cárdenas, der mit seinen 36 Jahren aussieht wie 47, hat inzwischen fertig geraucht. Er wechselt in den Arbeitsstuhl, ein neuer Kunde hat sich eingefunden. Während er dessen Hosenbeine nach oben stülpt und um die freigelegten Sockenränder Kunststoffmanschetten als Schutz vor unpräzise platzierter Schuhcreme legt, spricht er über die bevorstehende Wahl: "Ich gehe wahrscheinlich gar nicht hin, es ändert sich doch nichts für uns".

Dem widerspricht Alonso Ancira entschieden. "Mexiko könnte abheben wie ein Ballon", sagt der Chef des Minenunternehmens Grupo del Norte, der auch Hauptaktionär von Altos Hornos de México (AHMSA) ist, des größten integrierten Stahlwerks Mexikos. Die künftige Regierung, egal welcher Couleur, müsse Worten endlich Taten folgen lassen.

Ancira, dessen Großmutter aus Luxemburg stammte, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg in der US-Army diente und deshalb das Privileg dreier Reisepässen hat, listet auf, was zu tun wäre: "Reformen am Arbeitsmarkt, bei Bildung, Steuern und Energie." Durch Aufbrechen der Monopole im Strom- und Gasbereich könnte Mexiko zum Überflieger werden, das China Amerikas sozusagen.

Prognosen zufolge wird Mexiko 2050 vom derzeit 13. auf den sechsten Rang der weltgrößten Volkswirtschaften vorrücken. "Trotz der Politik hat sich die Wirtschaft Mexikos vergleichsweise gut entwickelt", sagte Werner Auer am Rande einer Tagung in Mexiko-Stadt dem Standard. Der Chef des 2005 von Siemens übernommenen Anlagenbauers VAI ist wie sein Geschäftspartner Ancira überzeugt: "Bei entsprechender Reformfreude könnte es hier wie eine Rakete abgehen." Wohlstand und Stahlverbrauch gingen Hand in Hand.

Mit einem Pro-Kopf-Stahlverbrauch von 170 Kilo gehört Mexiko zu den Nachzüglern. Trotz einer bedeutenden Autoindustrie, die um die Millionenstadt Puebla konzentriert ist und die ihren Ausstoß bis 2015 auf jährlich fünf Millionen Stück verdoppeln will, werden Spezialstähle nach wie vor importiert. Das soll sich nun ändern. In Monclova, zwei Flugstunden von Mexiko-Stadt und 250 km von der texanischen Grenze entfernt will AHMSA mit Hilfe von Siemens VAI die Voraussetzungen schaffen, um leichte, aber extrem widerstandsfähige Stähle herstellen zu können. Für die Linzer Anlagenbauer geht es um rund 200 Mio. Euro - den größten Einzelauftrag, den sie in Mexiko bis dato abgewickelt haben.

Eisenerz und Kohle aus eigenen Minen

"Unser Vorteil hier sind das Eisenerz und die Kohle, die wir aus eigenen Minen beziehen", sagt Alejandro Garza, ein AHMSA-Ingenieur. Die Kohle wird mit Zügen in das Werk geliefert, das Eisenerz über eine Pipeline. " Wir können Stahl sehr günstig produzieren", sagt Garza. Heuer sollen es gut vier Mio. Tonnen sein, 2014 werden fünf Millionen angepeilt. Zum Vergleich: die Voest in Linz produziert etwa 5,5 Mio. Tonnen.

Mario Cárdenas, der Schuhputzer, macht seinen Arbeitsplatz dicht. " Schluss für heute", sagt er. Es ist kurz vor 18 Uhr, bald wird die Sonne hinter dem Häusermeer verschwinden. Auf der Straße ist Rush Hour, Hunderttausende stauen nach Hause.

Cárdenas wohnt zwei Kilometer vom Ort entfernt, wo er von Montag bis Freitag und manchmal auch Samstags arbeitet. Er schiebt seinen Arbeitsplatz vor sich her. Manchmal, sagt er, träume er von einem Lieferwagen mit Hebebühne. Vor die Alternative gestellt, seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen oder es selbst etwas bequemer zu haben, ziehe er Ersteres vor. Sprach's und ist um die Ecke verschwunden. (Günther Strobl, DER STANDARD; 26./27.5.2012)