93 Prozent Ja-Sager: Screenshot aus dem Nasdaq-Portal drei Stunden nach Börseneröffnung am 21. 5. 2012.

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In der Demokratie ist die Weisheit der Vielen einer der am besten geschützten Grundwerte. Derzeit treibt nicht nur Sarrazin die deutsche Demokratie in Richtung Volksabstimmung über den Euro, sondern auch die Redaktionen reagieren weitgehend nur noch auf Themen, die in Gestalt von Popularität mehrheitliche Zustimmung, zumindest Aufmerksamkeit zu garantieren scheinen. Im Falle von Facebook allerdings lässt sich die Weisheit des Schwarms kurzfristig messen - nutzen wir die Gelegenheit zu einer kleinen Feldforschung der Schwarmintelligenz:

Ein Mensch kann irren. Können aber 900 Millionen Menschen irren? 1939 konnten sie. Mit rund 100 Millionen Opfern insgesamt wurde der Zweiten Weltkrieg zum größten je von Menschen verübten Massaker an ihrer eigenen Art.

900 Millionen Facebook-Bewohner dagegen bewegen sich in einem ganz anderen, positiven und deshalb Social Web genannten Bereich. Und es bedarf schon einer gehörigen Portion Ignoranz gegen kollektive Sitten, wenn man glaubt, die harmlose "like it"-Mode ablehnen zu müssen.

Gesetzt den Fall, die 900 Millionen Facebook-Teilnehmer sind echt, ihre Motive - siehe auch unter "arabischer Frühling" - sind hehr und fördern die Demokratie, ihre "likes" sind eine der harmloseren Formen von Massenpsychose - was spricht dann gegen den auch wirtschaftlichen Erfolg von Facebook? Eigentlich nichts. Zu dieser Auffassung gelangten auch jene 93 Prozent von Aktienspekulanten (siehe Abb. unten), die sich als Teilnehmer des Nasdaq-Bewertungssystems bei Börseneröffnung am Montag als "bullish" zu der Aktie mit dem Kürzel FB bekannten. Das "Community Sentiment", also die Weisheit des Schwarms, soll dafür sorgen, dass die Scheuklappen und Einzelinteressen der Händler und Analysten nicht die Objektivität der Bewertung behindern. Zwei Tage später war die Zahl bereits auf 84 Prozent gesunken - eine erstaunlich langsame Reaktion auf den Kurseinbruch der letzten drei Tage. Wir werden in nächster Zeit verfolgen können, wie sich Aktienkurs und Schwarmweisheit zueinander verhalten.

Die Zahlen vom 21. 5. und 23. 5. aber sagen uns dennoch weniger etwas über die Facebook-Aktie, dafür umso mehr über die Weisheit des Schwarms:

1) Sie zeichnet sich durch sowjetische Mehrheiten aus, d. h., sie ergibt meist eine Mehrheitsmeinung. Ein 50/50 ergibt sich eher selten.

2) Ihre Vertreter sind durchweg Meister ihres Faches, etwa Analysten und Journalisten, Spezialisten und sonst wie qua Erfahrung Berufszuständige.

3) Es dauert erstaunlich lange, bis der Schwarm eine einmal gefasste Auffassung revidiert.

In der Kombination der drei hier aufgeführten Merkmale lässt sich durchaus die Finanzkrise von 2008 erklären - aber eben nicht als platzende Blase, sondern als Ausdruck von Strukturen kollektiver Meinungsbildung.

Ein Beispiel: Noch immer sind nicht nur die drei US-Ratingagentur Standard Poor's, Moody's und Fitch, sondern auch die deutsche und die Schweizer Regierung sowie deren Zentralbanken davon überzeugt, dass US-Anleihen mindestens ein AA+ wert sind. Über fehlende Transparenz kann man sich kaum beklagen, denn S&P legt seine Kriterien auf seiner Homepage offen.

Abweichende Bewertungen, die die USA bei CCC sehen, werden bisher offiziell ignoriert, obwohl unter den Chief Economists und Research-Leitern hinter vorgehaltener Hand meistens Zweifel an der offiziellen Bewertung geäußert werden.

Es gibt also eine Kluft zwischen der offiziell verbreiteten Schwarmweisheit und ihrer Wahrnehmung in Entscheiderkreisen. Nur durch diesen Gap aber lässt sich erklären, warum Facebook-Aktien nun zumindest drei Tage lang massiv abgestoßen wurden, obwohl die Analystenmehrheit an ein Steigen glaubte.

Die Süddeutsche Zeitung jedenfalls beglückte ihre Leser noch einen Tag vor Börsengang mit der bestmöglichen Empfehlung des Apple-Mitgründers Wozniak:

"Steve Wozniaks Empfehlung ist eindeutig: Er wird Facebook-Aktien kaufen, egal zu welchem Preis. Der 62-Jährige muss es wissen."

Wenn es aber egal ist, zu welchem Preis eine Aktie ge- oder verkauft werden soll, dann könnte dies ein ernster, um nicht zu sagen " nachhaltiger" Hinweis auf die Qualität der kollektiven Schwarmweisheit sein. (Alexander Dill, DER STANDARD, 16./17.5.2012)