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Polster, 1989, gegen die DDR: "Auf dem Platz zeigt sich, wie einer wirklich ist, auf dem Platz wird man zur Kenntlichkeit entstellt."

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Toni Polster: "Ich zu langsam? Ihr keucht schon auf der dritten Stufe im Stiegenhaus."

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Wäre ich nicht so gut gewesen, gäbe es die Deutsche Demokratische Republik noch immer. Und gäbe es die Deutsche Demokratische Republik noch immer, wäre vielleicht die Sowjetunion nicht in sich zusammengebrochen. Und wäre die Sowjetunion nicht in sich zusammengebrochen, wer weiß, wie wir heute lebten.

Aber ich war so gut, ich habe, von den meisten unbeachtet, Weltgeschichte geschrieben, zum Guten oder zum Schlechten, ich kann es nicht sagen, mir fehlt der Vergleich. Mag sein, dass ich als bescheiden gelte, möglich, dass man eine derartige Vorstellung von mir hat, ich bin es nicht im Mindesten, im Gegenteil, ich bin mir der Tragweite meiner Tat bewusst. Wann immer ich ein Stück jener Mauer, wann immer ich eine Dokumentation über ihren Fall sehe, sehe ich mich aus der Kabine traben und höre die Pfiffe und Schmährufe, die Beleidigungen und Gemeinheiten, das Brüllen, Toben und Keifen, als mein Name durch den Lautsprecher schallt, während ich meine Schultern kreisen lasse.

Sie hassten mich, sie verachteten mich, ihnen trieb es die Zornesröte ins Gesicht, wenn ich bloß erwähnt wurde, mein Anblick verzerrte ihre Züge. Ich sehe mich immer noch an meiner Kette mit dem Kreuz knabbern und den Gummi kauen, als hätte er mich angegriffen, spüre immer noch, wie sich während des Abspielens der Bundeshymne alles in mir zusammenzieht und meine Backenknochen mahlen, ich sehe mich immer noch über das Stadiondach hinaus in den Abendhimmel blicken. Lass mich gut sein, sagte ich, bitte, lass mich so gut sein, wie ich bin.

Ich spielte stets den Bescheidenen, um als der einfache Junge von nebenan zu gelten, als einer von ihnen, einer von uns, kein bisschen anders. Ein Mensch ist ein Mensch, sagen die, die sich keinen Deut um andere scheren; ich wollte als ein solcher Mensch durchgehen und gab immer den, den man sympathisch nennen kann. Aber Sympathie ist keine Kategorie, sympathisch sind die Gewinner diverser Castingshows, der schlechte Durchschnitt, der kleinste gemeinsame Nenner, jenes verheerende Mittelmaß, das niemals übers Mittelmaß hinausragen darf - ja nichts Besseres sein, um Himmels willen nichts Außerordentliches leisten und sich dessen vielleicht auch noch bewusst sein, nichts tun, was gerade als unschicklich gilt, das bringt Sympathie. Sympathie ist die wechselseitige Versicherung der Kleingeister.

Ich wollte Tore schießen

Auf dem Platz war ich nie bescheiden, und auf dem Platz zeigt sich, wie einer wirklich ist, auf dem Platz wird man zur Kenntlichkeit entstellt. Die einen bemühen sich redlich, schuften und rackern, hetzen mit zusammengebissenen Zähnen und zusammengekniffenen Augen über den Rasen, die anderen sehen nur sich, den Blick auf den Boden gerichtet, taub und blind für ihre Mitspieler, Einmannarmeen nach dem selbstausgestellten Marschbefehl. Manche sind dermaßen ehrgeizig, dass es schmerzt, sie in diesem Zustand erleben zu müssen, der Trainer soll sehen, dass sie genau das tun, was er von ihnen verlangt, nach jedem Pass, jeder Grätsche, jedem Einsatz suchen sie seinen Blick, während andere sich kleinmachen, beinahe verschwinden, sich verstecken, wann und wo immer es geht, um sich in den Dienst eines Größeren zu stellen, das einer oder alle sein kann.

Ich wollte Tore schießen, mit dem Fuß, dem Kopf, der Brust, der Schulter, meinethalben mit der Hand, gleichwie, hinein damit, über die Linie, mehr als die Hälfte des Ballumfanges, die Hände hochgerissen, die Fäuste geballt, das Trikot ausgezogen und gejubelt. Ich wollte Spiele entscheiden und mich auf den Fotos sehen, ich wollte meinen Namen in und unter den Spielberichten und so viele unterschiedliche Minuten wie möglich zwischen den Klammern dahinter lesen, Marksteine setzen, Tatsachen schaffen, Spuren hinterlassen. Ich wollte der sein, von dem die Mitspieler wissen, dass er auch in der einundneunzigsten Minute treffen kann, ich war der, auf den die anderen hoffen konnten, wenn alles aussichtslos schien. Nicht umsonst gewann ich den Goldenen Schuh, den ein Rumäne kurz für sich reklamieren durfte, nachdem sein Staat alles unternommen hatte, um einen seiner Untertanen zum besten Stürmer Europas zu machen.

Ich habe nie gearbeitet, und dafür hasste man mich, man konnte mir nicht vergeben, was andere sich ständig versagen müssen. Ich habe immer getan, was mir Spaß macht, und damit viel verdient; was ich tat, tat ich leidenschaftlich. Ich bin ein Glückskind, mag sein, auf die Sonnenseite gefallen, vielleicht, aber ich ließ meine Träume niemals fahren, nicht einen Tag lang, ich wollte immer so leben, wie ich lebte. An meinem Lächeln sah man, dass es anders sein kann, mein Gang zeigte andere Möglichkeiten, auch wenn ich schwere Zeiten durchmachte - was ist das gegen einen, der täglich zur selben Zeit früh aufstehen, in ein Büro oder eine Fabrik muss, in einen Umschulungskurs oder auf ein Amt, und doch einmal, irgendwann vielleicht, vor Zeiten, die immer noch seine Träume durchwehen, den Drang nach Freiheit verspürte? Das hat man mir übelgenommen: dass ich nicht auch geschunden und gebrochen und verbogen und in den Dienst einer Sache gestellt wurde, die nichts mit mir zu tun hat.

Ich war an der frischen Luft, ich reiste umher, ich bekam so viele Briefe, dass ich mich vor dem Briefträger schämte, dessen Gehalt man zumindest hätte verdoppeln müssen, ich schoss meine Tore, ich hatte mehr Geld, als ich je zu träumen gewagt hätte, obwohl es mir nicht darum zu tun war. Zwar nahm ich das Geld gern, aber niemals hätte ich mir meine Freiheit nehmen lassen. Ich lebe nur einmal, sagte ich mir.

Arbeiten, sagen sie heute, Trainer und Manager, Funktionäre und Journalisten, arbeiten, arrbeiten, arrrbeiten, selbst ein Großteil der Spieler ist sich nicht zu blöd, das Wort im Mund zu führen; ernste Mienen, vorm Spiegel einstudierte Sätze, ranzige Konserven - nur nichts falsch machen, immer schon im Voraus daran denken, wie es vor dem Fernsehapparat wirken möge, läppische Kostüme, trauriger Fasching. Wir haben hart gearbeitet, wir haben gut gearbeitet, wir müssen weiterarbeiten, wir müssen noch viel mehr arbeiten, wir werden weiter und weiter unermüdlich an uns arbeiten. Taschenspielertricks! Blendung! Kapitulation vor dem gesunden Menschenverstand, der alles andere als gesund ist!

Ich habe nie gearbeitet, und ich bin stolz darauf. Ich wurde von Trainern angebrüllt, wenn mein Sosein sie reizte, Manager sagten mir ihre Meinung, wenn sie ihre Felle den Bach hinunterschwimmen sahen, man pfiff mich aus und schrieb, ich sei ein Prolet, ein Dummkopf, eine faule Sau; auf der Straße rief man mir Unerhörtes hinterher, wenn ich mich umdrehte, sah ich keinen. Aber ich habe nie gearbeitet, darauf bestehe ich, gerade weil ich weiß, was arbeiten heißt und ich mich korrigiere: Ich habe gearbeitet, als Mechanikerlehrling, danach habe ich nie wieder gearbeitet und nie wieder arbeiten wollen. Fußballspielen ist keine Arbeit. Wer es als eine solche sieht, plappert die Gaunersprache nach oder ist als Spieler verloren.

Unlängst, als ich spätnachts nach Hause kam und den Fernsehapparat anknipste, sah ich das Spiel wieder. Siebzehn Minuten waren vergangen, wir führten eins zu null, ich hatte, wie ich in der Einblendung las, in der zweiten Minute ein Tor erzielt, gleich nach dem Anpfiff, vor dem man mich am liebsten vom Rasen getragen, in die Kabine gesperrt oder Schlimmeres mit mir angestellt hätte.

Ich dimmte das Licht, öffnete die Balkontür und legte mich auf die Couch; bisweilen hörte ich Autos auf der Straße vorbeifahren, es nieselte, die Luft frisch, eine Brise aus dem Wienerwald, und während die schwarz-weiß und hellblau-weiß Gekleideten über das Grün liefen, sah ich die zweite Minute vor mir, als ich an der rechten Flanke den Ball bekam und in die Mitte zog; kurz bevor ich am runden Kalkstreifen ankam, der am Sechzehnmeterraum den Laufweg des Tormanns beim Ausschuss begrenzt, nahm ich zwischen zwei Beinen hindurch Maß, flach ins rechte Eck.

Der Rotschopf wartete bereits mit geballten Fäusten auf mich, seine Halsschlagader war so angeschwollen, dass ich mich um sein Herz sorgte, ich umarmte ihn, packte ihn an den Ohren, von hinten und seitwärts kamen die anderen, sprangen mich an, küssten mich auf Kopf und in den Nacken, ich hörte meinen Namen gerufen werden. Ich hörte ihn, aber ich wollte ihn nicht hören, nicht in diesem Moment, nicht aus diesen Mündern.

Ich hatte das Spiel seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, hatte es immer in mir für mich bewahren wollen, aber als der glatzköpfige Burgenländer im Strafraum fiel, der Gegner hatte ihn nicht einmal angehaucht, aber er fiel gut, knickte ein und rutschte bis über die Torauslinie, setzte ich mich auf und stellte den Ton lauter. Ich sah mich den Ball nehmen, ihn auf den Punkt legen, hörte auf einmal alles leise werden, und mir stockte der Atem, wie er es damals nicht getan hatte. Ich schloss die Augen, als ich Anlauf nahm, mein Herz raste, ich begann zu schwitzen, bitte, murmelte ich, lass mich treffen, lass mich den nicht verhauen, obwohl ich damals nichts davon gedacht hatte; man ist verloren, wenn man bloß daran denkt, danebenschießen zu können. Und Tor, hörte ich, was für ein Tag, was für ein Tag, ich öffnete die Augen und sah mich mehr als zwei Jahrzehnte früher zur Ecke laufen, eine Traube hatte sich um mich gebildet, zweiundzwanzigste Minute, Österreich führt gegen die De De Errr zwei zu null, und der Toni Polster hat endlich das gemacht, was hier die Fußballfreunde gesagt haben, er soll nicht nur in Spanien die Tore schießen, sondern auch für uns. Herrliche Perspektive, wie ein Vogel sah ich mich von oben, langer Anlauf, ein kurzer Verzögerungsschritt vorm Abziehen, linker Fuß, rechtes Eck.

Fußballfreunde

Fußballfreunde. Dreimal wiederholte ich das Wort auf der Couch, immer lauter, immer belustigter, wie lachhaft das in einem Land klang, in dem sich Anhänger nach dem zweiten Tor gegen ihre Mannschaft höhnisch hinter den Gegner stellen und sich über jeden Gegentreffer mehr freuen als über einen Anschlusstreffer. Spanien, ich sah Sevilla wieder vor mir, den Fluss, die Cafés, das Stadion, die Menschen in der heißesten Stadt des Landes, Andalusia with fields full of grain; ich begann leise zu singen, Sonne und Sonne und Sonne, wie geschaffen für mein Gemüt, I have to see you again and again, Lächeln und Lachen fielen mir dort leichter als in Wien, leichter als in Deutschland, es war natürlicher, ich kann es nicht anders sagen, take me, spanish caravan, yes I know you can.

Der einzige Tag, an dem ich in die Arena zum Stierkampf gegangen war, um eine Journalistin zu beeindrucken, tauchte in mir auf, ich sah mich ein paar halbseidene Scherze ausprobieren, sie mit dem Schrecklichen unter uns necken, ehe mir schlecht wurde und ich kein Wort mehr über die Lippen brachte, als in unserem Strafraum Elfmeter gepfiffen wurde. Diesmal ließ ich die Augen offen, sah unseren Tormann nach rechts fliegen und den Ball abwehren; ich liebte ihn in diesem Moment wie niemanden sonst, jenen Menschen, der später für die Freiheitlichen im Parlament sitzen wollte.

Was habe ich mich geschämt für ihn! Will da inmitten der verkommenen Brut sitzen, die gerade bis zu den Grenzen Österreichs blicken kann, den abgeschmacktesten Reden applaudieren und die dünnen Lippen schürzen. Er sprach immer gut, ihn hat man nie einen Proleten genannt, das sei einer, sagte man, der etwas im Kopf habe. Etwas vielleicht, aber was? Wie konnte der eine der andere sein? Wahrscheinlich hatte er die Bundeshymne zu oft zu ernsthaft mitgesungen.

Ich war nicht ganz nüchtern an diesem Abend, in der Pause holte ich eine Flasche Bier, aber es gab keine Pause, nicht bei einer Wiederholung, und auf meiner Couch sah ich alles noch einmal und anders, als ich es in mir trage. Wer mochte um diese Zeit dieses Spiel sehen? Arbeitslose? Studenten? Freiberufler? Disziplinlose Sportler? Verwahrloste Junggesellen? Und weil es mir nie genügte, nur ein Tor zu treffen, weil ich keinem meine Gunst verwehren wollte, schlenzte ich in der dreiundsechzigsten Minute den Ball von halblinks am Tormann vorbei ins rechte Eck, nicht das schönste Tor vielleicht, aber eines, wie es nur die schießen, die unbedingt treffen wollen.

Auf einmal brüllten alle meinen Namen, als wollten sie mich adoptieren, fünfundfünfzigtausend Menschen, die ihn bei Verlesung der Aufstellung nicht skandiert, sondern unter Pfiffen zu begraben versucht hatten, fünfundfünzigtausend jubelten mir zu, als streiften sie die Torprämie ein - abgesehen von den viertausend Ostdeutschen, die in Bussen, Zügen, Trabants und Wartburgs in den Prater gekommen waren und sich gewundert hatten, in Wien kein Begrüßungsgeld zu erhalten. Zum ersten Mal hatten sie ohne Beschränkungen ihren Staat verlassen dürfen, unter der Hand verhandelten die Spieler längst mit westdeutschen Clubs, aber dass sie gegen elf Österreicher verloren, war der Sargnagel, der Todesstoß, das Fanal. Die Mauer war keine Woche zuvor gefallen, der Staat stand noch, aber jetzt, am Abend des fünfzehnten November, war er heillos verloren.

Und jetzt jubelten alle mir zu? Dem, dem sie am liebsten ein Einreiseverbot erteilt hätten, zumindest für jene Tage, an denen die Nationalmannschaft spielt? Córdoba, sagt man in dem Land, das mich erst liebte, als es mich für sich reklamieren konnte, und schnalzt ahnungsvoll mit der Zunge. Aber das ist nichts, ein unwichtiges Spiel, das ein Minderwertigkeitsgefühl besänftigen will. Was ist ein Sieg gegen die BRD, der Österreich nicht im Turnier halten konnte, gegen den Abschuss eines Staates? Wer wollte in einem Staat leben, der nach 90 Minuten Österreich unterliegt?

Während die viertausend überlegten, ob sie überhaupt zurück nach Berlin, Dresden oder Leipzig reisen sollten, ob sie sich nach dieser Schande jemals wieder in Rostock, Karl-Marx-Stadt oder Frankfurt an der Oder blicken lassen könnten, sah ich die einundfünfzigtausend auf der Tribüne Richtung Abgang stürmen, eine Lawine, eine Menschenmasse, eine Körperwalze, die so nah wie möglich ans Spielfeld wollte, um wieder und wieder meinen, den vor dreiundsechzig Minuten gehassten Namen zu brüllen. Ich zeigte ihnen, was ich darüber dachte, kurz, aber bestimmt.

Verzweifelt an euren Leben und beneidet mich um meines, hatte ich ein ums andere Mal gedacht, in euren Köpfen trefft ihr jedes Tor, in der Volltrunkenheit wisst ihr, wie jedes Spiel zu gewinnen sei, vorm Würstelstand tüftelt ihr die Taktik aus. Auch wenn ich mir einbläute, wann immer ich die Gemeinheiten sah oder hörte, es könnte mir egal sein, immerhin hätte ich erreicht, was ich erreichen wollte, meine kleine Freiheit, die im Vergleich zu anderen riesig war, musste ich mir eingestehen, dass ich ein Dünnhäuter war, der nicht so leicht abschütteln konnte, nicht nur nicht geliebt, sondern gehasst zu werden. Was kann ich dafür, dachte ich, wenn ich bescheiden lächelte, dass ihr mit fetten Bäuchen und einer Bierflasche nach der nächsten vor dem Fernseher sitzt und nie so leben wolltet?

Was kann ich dafür, dass ihr einmal, nur einmal, auf der Stelle mit mir tauschen und jederzeit in mich schlüpfen würdet? Ich zu langsam? Ihr keucht schon auf der dritten Stufe im Stiegenhaus. Ich zu dumm? Ihr lauft jedem Rattenfänger hinterher. Ich zu faul? Ihr habt noch nie einen Schritt gewagt, der euch in der Versenkung hätte verschwinden lassen können, zumindest nicht bewusst. Ich habe ein schönes Leben, ich bin Gott, meiner Mutter, meinethalben auch meinem Vater, ich bin mir, dem Glück, dem Zufall, wem auch immer, ich bin dankbar, der zu sein, der ich bin. Ich liebe das Leben, das ich lebe. Ich bezweifle, dass ihr das behaupten könnt.

Die sogenannten Pfeifkonzerte! Die Schneckenkommentare! Die Witze, ich sei vom Tierschutzverein angezeigt worden, weil ich 90 Minuten auf einem Regenwurm gestanden sei! Die Karikaturen und Verballhornungen! Die letztklassigen Kabarettisten, die auf meine Kosten Aufmerksamkeit erheischen wollten! Scheiß drauf, versuchte ich mir einzureden, besser gehasst als unbeachtet.

Aber ich wollte mir keine Elefantenhaut zulegen. Ich wollte nicht gepanzert durchs Leben gehen. Ich wollte nicht sagen: Beim einen Ohr rein, beim anderen raus, weil mein Gehirn und die Verbindungen dazwischen waren, die man einmal - ich immer noch - Seele nannte. Und dann wurde abgepfiffen, zeitgleich hatte die Sowjetunion unsere Rivalen aus der Türkei geschlagen, in ein paar Monaten würden wir zur Weltmeisterschaft nach Italien reisen, wo ich meinen Weg in die größere Welt begonnen und die Hälfte meines Einkommens für Ferngespräche nach Wien ausgegeben hatte.

Auf meiner Couch hörte ich die Stimme des Kommentators brechen, er kämpfte gegen die Tränen an, wies darauf hin, dass auch der vermeintlich Abgebrühte nicht ohne weiteres über dieses Ereignis sprechen könne, und während meine Mitspieler eine Runde durch das Stadion drehten, sich bei den Zusehern bedankten und sich feiern ließen, verschwand ich in die Kabine. Es gab keine Mobiltelefone, ich konnte weder meine Mutter noch meine Freundin anrufen, ich stellte mich unter die Dusche.

Wäre ich nicht so gut gewesen, wäre ich vielleicht nie wieder für Österreich aufgelaufen, selbst der Trainer hatte sich von der Treibjagd gegen mich beirren lassen und mich einige Male auf die Bank gesetzt, was mich heute noch die Augen niederschlagen lässt. Seither stelle ich mir die Hölle als Ersatzbank vor: Während alle anderen tätig sind und etwas wollen dürfen, ist man zum tatenlosen Zusehen verdammt, die anderen sehen, dass man nur zusehen darf und nehmen an, auch wenn sie es besser wissen müssten, man sei zum Mitmischen nicht gut genug. Man ist nicht auf der Rechnung, man spielt keine Rolle, vielleicht werden einem ein paar Minuten gegönnt, vielleicht beginnt man sogar ein wenig zu schwitzen. Die Hölle, das sind die anderen, die einen auf der Bank sitzen sehen.

Im Ohr hatte ich Jubel und Verwünschungen, in der Nase die Kälte eines lang vergangenen Novemberabends, als ich das Wasser wärmer stellte. In mir toste und tobte etwas, das ich lange zu verstecken versucht hatte. Ich putzte die Zähne, um den Biergeschmack loszuwerden, mein Haar fühlte sich anders an, mein Körper hatte sich verändert, ich begann zu pfeifen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wer von euch, murmelte ich, die mir heute noch für damals auf die Schultern klopfen, hat mich vor den drei Toren nicht zum Teufel gewünscht? Von heute auf morgen alles anders? Das gab es in diesem Land schon einmal.

Das Wasser prasselte auf mich nieder, ich stellte es noch wärmer und seifte mich ein. Ich spielte Fußball, und ich wusste vom Leben außerdem nicht viel, ich lebte, weil ich leben musste, vom Fußballspiel fürs Fußballspiel. Woher kam das auf einmal? Ich spielte Fußball wie kein zweiter, ich stak voll Witz und Fantasie, ich spielte lässig, leicht und heiter, ich spielte stets, ich kämpfte nie. Ich sang die Zeilen vor mich hin, zwischendurch pfiff ich, ich hatte der Welt ein Schnippchen geschlagen.

Was stand für meinesgleichen schon auf dem Programm? Ein Leben in einer Arbeit, deren Sinnhaftigkeit man sich wie einem kranken Ross einreden muss, wenn es gutgeht, um Almosen betteln und auf Ämtern anstehen, wenn nicht. Ich bin kein Repräsentant von irgendetwas, kein leuchtendes Beispiel, kein Beweis für irgendwelche Chancen; selbst wenn man Talent, Ehrgeiz und Hartnäckigkeit anführte, bleibt ein unauslöschlicher Rest Glück. Ich bin einer aus einer Million.

Ein paar Tage zuvor hatte ich gelesen, nach Politikern seien Fußballer die unbeliebtesten Menschen, dicht gefolgt von Autoverkäufern. Um alle darum kreisenden Streitgespräche in meinem Kopf abzustellen, stieg ich aus der Dusche, band mir ein Handtuch um und buchte einen Flug an die Sonnenküste, nicht zu weit von Sevilla entfernt. Auch wenn der halbstarke Amerikaner, der weder schauspielern noch singen, aber mit beidem Erfolg haben konnte, mit seinem Lied die Mauer zu Fall gebracht zu haben meint - indem ich der Deutschen Demokratischen Republik den Garaus machte, rettete ich den Kommunismus. Ganz unbescheiden: Ich war sehr gut. (Clemens Berger, DER STANDARD/ALBUM, 26.5.2012)