Man kann über den Erfolg der Piraten nur staunen und spekulieren. Eine mögliche Erklärung wäre, dass sich in diesem Land die Ansicht durchgesetzt hat, Politik sei eine viel zu ernste Sache, als dass man sie den Politikern überlassen könnte. Die Anti-Globalisierer, die Stuttgarter "Wutbürger", die Atomkraftgegner, die Bahngleise besetzen, um Atommülltransporte aufzuhalten, sie alle glauben, sie könnten es mit den Politikern aufnehmen. Was in der Unterhaltung mit Talenteshows wie " Deutschland sucht den Superstar" angefangen hat, ist nun in der Politik angekommen.

Man muss nichts können, es reicht, dass man davon überzeugt ist, man hätte das Zeug - zum Künstler, zum Politiker, zum Selbstdarsteller. Der Frankfurter Journalist Thomas Rietzschel glaubt, dass der Dilettantismus sich "zum Grundzug einer Spaßgesellschaft entwickelt" hat, in der vor allem "die perfektionierte Darstellung des Sinnlosen bejubelt" wird, eine "Weltanschauung", in der "jeder, wenn er nur will, die Chance bekommt, mit Erfolg zu versagen".

So hat sich Willy Brandt "Mehr Demokratie wagen!" vermutlich nicht vorgestellt. Tatsächlich aber könnte der Erfolg der Piraten auch ein Produkt der "Demokratisierung" der Gesellschaft sein, ein Kollateralschaden oder Nutzen des technischen Fortschritts. So wie man heute über das Internet Flashmobs organisieren kann, so kann man auch Politik spielen.

Früher musste man sich noch dazu aufraffen, früh morgens aufzustehen und Flugblätter vor Fabriktoren zu verteilen, heute kann man alles von daheim mithilfe eines Computers besorgen. Und schaut man sich die Leserkommentare in den Foren auch seriöser Zeitungen an, erkennt man, dass Demokratie und Idiotie keine Gegensätze sein müssen, sie können sich auch ergänzen.

Alles, worauf es den Piraten ankommt, ist: mitmachen zu können. Der Rest wird sich ergeben, irgendwie, irgendwann. Innerhalb kürzester Zeit haben sie den Politjargon der anderen Parteien adaptiert, auch sie möchten " Verantwortung übernehmen" und "Menschen für demokratische Prozesse gewinnen".

Auf die Frage, wie er "diese Verantwortung vorleben" wolle, antwortete der neue Vorsitzende der Piraten, Bernd Schlömer, im interview mit Spiegel online: "Ich muss mich schützend vor die Mitglieder stellen. Wenn sich jemand unbedacht äußert, muss ich sagen: Das ist ein Pirat, und der gehört dazu." Nach diesem Prinzip funktionieren auch Burschenschaften, Kegelklubs und mafiose Organisationen. Erst kommt die Truppe, dann die Moral.

Als "wichtigste Themen" nannte Schlömer das Urheberrecht, den Datenschutz und die Transparenz. Was immer er unter "Transparenz" versteht, auf das "digitale Grundrecht", sich im Netz "anonym" äußern zu dürfen, mag er nicht verzichten.

Im Mittelalter blieben nur die Henker im Schutz der Anonymität, sie verrichteten ihren Job zwar öffentlich, aber mit einer Maske über dem Kopf. Heute wollen die Piraten unerkannt im Netz Urteile vollstrecken. Jetzt muss nur noch geklärt werden, ob sie ihre Abgeordnetenbezüge mit ihren Namen quittieren oder auf ein anonymes Nummernkonto überweisen lassen werden. (Henryk M. Brode, DER STANDARD, 26.5.2012)