Mehr als man vermutet, erkundete Gregor Auenhammer.

 

Auf den ersten Blick scheinen Clara Katharina Pollaczek und Anton Kuh meilenweit voneinander entfernt. Auf der einen Seite der pointiert formulierende Jongleur der Worte, der scharfzüngige Intellektuelle und zynische Kritiker, auf der anderen Seite die bislang fast ausnahmslos als Weggefährtin Arthur Schnitzlers wahrgenommene, unbekannte Literatin. Auf der einen Seite der erfolgreiche, zu Recht bis heute für seine perfekt artikulierte und formulierte Eloquenz bekannte und verehrte Anton Kuh, auf der anderen Seite eine zu entdeckende, feinsinnige und empfindsame Chronistin, die Schriftstellerin Clara Pollaczek.

Liest man aber hin und wieder gleichzeitig mehrere Bücher, ergeben diese entweder interessante Dissonanzen oder Parallelen. Ein luzides, zeithistorisch wertvolles und brisantes Kaleidoskop über die zwischen Umbruch und Untergang, zwischen Enthusiasmus und Depression, zwischen Krise und Hedonismus oszillierende Epoche zwischen den Weltkriegen ergeben beispielsweise die Lektüre von zwei sorgsam edierten Neupublikationen.

Jetzt können wir schlafen gehen versammelt vier Dutzend bislang unveröffentlichte Texte von Anton Kuh über Berlin und Wien; scharfsichtig, pointiert, oft polemisch. A. ist manchmal wie ein kleines Kind präsentiert zwischen 1923 und 1931 getätigte Notizen und Tagebucheinträge Clara Katharina Pollaczeks und Arthur Schnitzler. Pollaczek (1875-1951) beschrieb in einer knappen, prägnanten Sprache nicht nur ihre Beziehung zu Arthur Schnitzler, sondern enthüllt deren gemeinsame Vorliebe für das Kino.

Das von ihr beschriebene Universum perlustriert amüsant die bourgeoise Umgebung, in der sie sich mit dem schon betagten, aber geistig und körperlich regen Schnitzler bewegte. Mehr als 500 "Filmrezensionen" machen die gemeinsame Leidenschaft für jenes Medium deutlich. Die unter der Reihe "Manu Scripta" kommentierte Edition basiert auf einem von Pollaczek zu Lebzeiten der Wienbibliothek vermachten Typoskript und Schnitzlers (1862-1931) Tagebüchern. Die Germanisten Michael Rohrwasser, Stefan Kurz und Daniel Schopper sichteten das Konvolut, stellten persönliche und literarische Notate der beiden in Verbindung. Kommentiert ergeben sie ein komplexes Bild der Zeit, vor allem der Gesellschaft.

Als gesellschaftskritisch bekannt gilt auch Anton Kuh (1890-1941). Zwischen Strudlhofstiege und Alexanderplatz pendelnd, war es ihm à la longue lieber "in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern zu leben". Er zählte zu den genialen Kaffeehausliteraten der Zwischenkriegszeit, zu den Meistern des Feuilleton. Mit Alfred Polgar, Egon Friedell und Fritz Grünbaum, Armin Berg, Egon Erwin Kisch und dem wunderbaren Joseph Roth zählte er zu den streitbaren, politisch wachen und pointiert fabulierenden Autoren seiner Zeit. Neue Facetten, die seine Meisterschaft gekonnt ausleuchten, illustriert die von Walter Schübler zusammengestellte Anthologie. Kuh referiert über G'schaftlhuber und Piefkes, Snobs und Spießer, Wien-Hasser, Berliner Depeschen und das Café de l'Europe. Brillant hinterfragt der von den Nazis 1933 als "Kulturbolschewist" ins Exil gezwungene Klischees, beschreibt zweierlei Wien und geht der Frage nach, was Jesus in Berlin täte. Genial. Generationenprägend.

Im historischen Kontext betrachtet, ergibt jeder Band für sich, aber auch beide gemeinsam ein klares Sittenbild der in den Untergang tanzenden, in die Katastrophe des verbrecherischen Naziregimes mündenden postmonarchistisch pubertierenden Demokratie. Intellektuell, dennoch höchst amüsant.