Solange Arbeiter ununterbrochen bis zu neun Tagen & Nächten Wechselschicht und Spitalsärzte bis zu 72h-Wochen haben, bleibt Arbeitszeitverkürzung (AZV) politisch aktuell. Niemand will in der Haut chronisch Übermüdeter stecken – oder ihnen als Patient in die Hände fallen.

Der Widerstand der Wirtschaft und der Länder gegen AZV ist verständlich, aber oft so retro, wie manches wogegen sie zu Recht zu Felde ziehen. Denn solange die meisten – vor allem Doppelverdiener – unfreiwillig bis zu sechs Wochenstunden länger arbeiten als wir für unsere Einkommensansprüche wollen bzw. müssten (overworking), braucht es intelligente Mixes von AZV und der Goldader der Flexibilisierung. Mehr Freizeit und Lebensqualität bei mehr Produktivität.

Es gibt zaghafte Ansätze einer neuen Arbeitszeitdebatte, und das ist gut so*. Selbst wenn WKÖ-Funktionäre jammern, das ginge unvermeidlich auf Kosten von Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Das wäre zwar bei altbackenen Konzepten wie 35h-Woche bei vollem Lohnausgleich denkbar, aber bei Vetomacht der Wirtschaft faktisch unmöglich. Sie wäre daher gut beraten, auch eigene Dogmen, ein automatenhaft ewiges Njet zu überdenken, mit der Gewerkschaft moderne Streitgespräche im 21. Jhdt zu führen, sozialpartnerschaftlich win-win-Strategien zu erarbeiten.

Wahrscheinlich ist ohnedies, dass die Arbeitnehmer sich (wie fast immer) mehr Freizeit durch Lohnzurückhaltung de facto selbst zahlten (wie die Dänen ihre fünfte Urlaubswoche) – oder angesichts solcher Sachzwänge darauf verzichten (wie die Schweizer gerade auf sechs statt vier Urlaubswochen). Kein Grund zu Panik, solange ÖGB und AK Reste gesamtwirtschaftlicher Vernunft wahren.

Das erfordert natürlich, ein paar heilige Kühe zu opfern: Dass kürzere Arbeitszeit außer mehr Zeitwohlstand automatisch mehr Beschäftigung oder gar weniger Arbeitslose schafft müsste (siehe Deutschland und Frankreich) links so entsorgt werden wie rechts die Angst-(mache) vor zwangsläufigem Kostenauftrieb, Konkurrenz- und Jobverlust bei kürzeren Arbeitszeiten, siehe Deutschland, Holland, Dänemark, Norwegen.

Kreative Klassen, Wissensarbeiter, Freiberufler, Selbstständige (und Pfuscher) arbeiten ohnedies nicht im Rahmen enger Kollektivverträge. Für Industriearbeiter und Teile der Dienstklassen hingegen könnten innovative Modelle von Mehrfachbesetzung bis Turnusdiensten Produktivitätsschübe freisetzen, die Teillohnausgleich erlaubten und so Einkommenseinbußen verhinderten.
Es geht um die Option auf viel mehr Lebensqualität bei (fast) konstantem Einkommen. Z.B. die 5-Schichtplan 34h-Woche bei der Voest, mit 55 mehr freien Tagen und 18 Nachtschichten weniger.

Neue Arbeitszeit-Zeiten: Vorab Recht auf individuelle Wahlarbeitszeit (temps choisi) und (Familien)-Auszeiten bei Lohnverzicht. Lebensarbeitszeitkonten statt Überstunden. Freizeitgesellschaft und rund-um-die-Uhr Dienstleistungswirtschaft: längere Betriebs- und kürzere Dienstzeiten. D.h. 4-Tage-Arbeits-Woche bei 6-7 Service-Tagen. Mehr Ruhe-, weniger Stillstandszeiten. Mehr Freizeit bei längeren Maschinenlauf-, Öffnungs- und Funktionszeiten. Variablerer Arbeitseinsatz bei mehr Wahlchancen und Zeitautonomie. Höhere Kapazitätsauslastung bei besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Vollzeitnahe oder langzyklische (Block)Teilzeiten. Weniger Arbeits-, mehr Werktage. Im Ideenwettbewerb um Lebensqualität, humaneres und zugleich wertschöpfenderes Arbeiten haben wir eine Welt zu gewinnen. (Bernd Marin, DER STANDARD, 26/27.5.2012)