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Erika Mustermann

Foto: Reuters/Fabrizio Bensch

Mit Pomp und Pressekonferenz präsentierte die deutsche Bundesdruckerei 1982 den neuen Ausweis. Auf dem Bild eine brave Blondine mit schulterlangem Haar, ihr Name: Erika Mustermann. Eine in Plastik eingeschweißte Identitätskarte sollte fünf Jahre später den alten Pass in Buchform ablösen. Erika war die erste Person auf dem Dokument.

Frau Mustermann war nur ein Muster. Ein Abbild der deutschen Durchschnittsfrau. Wer ist sie, fragten sich Frauen und Männer zwischen Flensburg und Lindau.

Und wie viele von ihnen gab es? Die Ausweise bekamen immer mehr Sicherheitschips und elektronische Spielereien. 1997 löste deshalb eine bunte Erika die schwarz-weiße Erika ab. Jetzt dunkelblond, mit "moderner Brille und dezentem Make-up", wie sich die Berliner Bundesdruckerei ganz im Sinne einer Avon-Beraterin eines Kommentars nicht enthalten konnte.

Junge dynamische Frau mit frechem Kurzhaarschnitt

Schon vier Jahre später war Erika mit der Brille offensichtlich zu bieder. Weil das Hologramm, ein dreidimensionales Bild auf dem platten neuen Ausweis, die Nase wirklich groß und die Frisur wallen lässt, hatten die Druckereibeamten nun eine "junge dynamische Frau mit frechem Kurzhaarschnitt" herausgesucht. Die vorerst letzte Erika lächelt leicht bemüht vom digitalen Dokument in Geldkartenformat.

Die deutschen Durchschnittsdamen sind keineswegs Passbildphantome. All die Blondinen, "die jeder schon mal gesehen hat, aber keiner wirklich kennt", wie die Bundesdruckerei süffisant mitteilt, arbeiten täglich getreu dem ausgehandelten Tarifvertrag in der Berliner Behörde. In einem internen Casting qualifizierten sie sich für den Modeljob und wollten trotzdem inkognito bleiben. Noch 1987 freute sich Klaus Spreen, der Präsident der Bundesdruckerei, dass "Journalisten vergeblich versuchten", etwas Persönliches herauszubekommen. Dann aber erklärten vierzehn Jahre später die Herren aus der Hauptstadt plötzlich, Erika Mustermann sei eine "Modellbürgerin, eine junge dynamische Frau mit frechem Kurzhaarschnitt, die nun am Beginn einer glanzvollen Karriere steht".

"Ich kann dein Gesicht nicht mehr sehen"

Die öffentlich Unbekannten aus der Druckerei waren kurz vor ihrer Enttarnung. Ein Boulevardblatt wollte wissen, eine der Erikas heiße in Wirklichkeit Renate. Am 15. November 2001 endete das Versteckspiel plötzlich. Eine aufgeweckte Frau begrüßte erstaunte Journalisten: "Guten Tag, Mustermann", stellte sie sich vor. Es war Erika die Dritte. "Bis auf meine Nationalität stimmt hier nichts", lachte sie mit Blick auf ihr Ausweisbild. Ansonsten blieb die freundliche Frau namenlos. Um dann doch etwas aus ihrem Privatleben zu erzählen: Ihr Mann, der ebenfalls in der Bundesdruckerei arbeitet, hatte abends zu Hause erschöpft erzählt: "Ich kann dein Gesicht nicht mehr sehen." Am Ende erklärte die abgeklärte Erika, sie sei "eine gute, anständige Bürgerin".

Das passte zum Image. Erika Mustermann als typische Durchschnittsfrau von nebenan, die keineswegs Mittelmaß ist. Alle Frauen auf den Ausweisen sind stets 1,60 Meter groß und damit fünf Zentimeter kleiner als der statistische deutsche Durchschnitt. Dafür ist Erika ein Multitalent. Arbeitet sie doch gleichzeitig, wenn man den Identitätskarten glauben darf, als Oberleutnant im Verteidigungsministerium und als Zivilistin im Ministerium des Innern, ist, wahrscheinlich glücklich, mit Max Mustermann verheiratet und hat einen Sohn namens Leon, der den Kinderreisepass schmückt.

Das größte Testlabor für Produkte 

Obwohl zwischen Flensburg und Lindau tatsächlich nur rund hundert Mustermanns wohnen, ist die Sippe weitverbreitet. Charlotte ist hessische Polizistin, Maria promotet die Gesundheitskarte und die Schwestern Desiré-Jeanette und Anne lächeln vom EU-Führerschein.

Die Verwandten in Österreich geben sich moderat femininer. Dr. Isolde Musterfrau, natürlich blond, ziert seit 2002 den Personalausweis, Martina Musterfrau schreibt an das Patentamt, und Maria Musterfrau bewirbt sich bei Herrn Mustermann als Mitarbeiterin im Einkauf.

Anders als die anonymen Muster-Stellvertreter auf den Plastikkärtchen gelten Frauen, Männer und Kinder in Haßloch als reale goldene Mitte der Gesellschaft. Das größte Dorf der Republik ist auch das größte Testlabor für neue Süßigkeiten, Waschmittel und Brausen. Die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung, kurz GfK, bietet Konzernen seit 1986 an, zu überprüfen, wie ihre Innovationen ankommen. Ob Schokolade, Softdrink oder Schaumbad, die funkelnagelneuen Waren aus den Firmenlaboren stehen inmitten des normalen Angebots der Supermärkte, Drogerien und Geschäften und sind nicht als Testprodukte zu erkennen.

Die Haßlocher entscheiden innerhalb eines Jahres, ob die Neuheiten danach zu Abfall werden oder dem großen Auftritt in allen Regalen der Republik entgegensehen. Die Manager der GfK nennen das in ihrem eigenen Wirtschaftsdenglisch "Behaviorscan" und sprechen vom "kompletten Marketingmix in einer kontrollierten Realität". Was nichts anderes heißt, als dass die menschlichen Durchschnittsdummies nicht verheimlichen dürfen, was sie sich besorgen. An den Kassen erfasst eine persönliche Chipkarte, auf der bei Lieschen Müller lediglich "Haushalt mit einer Person" vermerkt ist, alles, was im Korb liegt. Fast im selben Moment freuen sich die Konsumforscher über neue Daten, die ihnen etwas über "Erstkaufpenetration", "Wiederkaufsrate" oder "Kaufintensität" verraten.

Soziodemografische Struktur

Die Pfälzer in dem 20.000 Einwohner Ort gelten nicht als besonders stinknormal, weil jeder das gleiche Geld verdient, gleich viel Grips besitzt und den gleichen Geschmack hat, sondern weil die "soziodemografische Struktur" des Ortes nahe der Weinstraße der des gesamten Landes entspricht. Ähnlich viele Hausfrauen, Ehepaare, Rentner, Sparkassensparer, Autofahrer oder Hundebesitzer wie in ganz Deutschland. Das funktioniert offenbar: In 25 Jahren gab es keinen Flop. Man könne "also getrost sagen, was der Haßlocher nicht mag, wird auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht gefallen", ist sich Katja Pitzer von der GfK sicher.

Eines allerdings kann die Konsumforscher ganz schön verdrießen. Sollten sich die Durchschnittsbürger entschließen, Seife und Saft im Nachbarort einzukaufen, hat sich das mit dem Qualitätssiegel deutscher Durchschnittsbürger ganz schnell erledigt. (Oliver Zelt, Rondo, DER STANDARD, 25.5.2012)