Dietmar Dahmen: "Größer denken, die Grenzen sprengen". Hier im Bild: Filmplakat-Aktion für "Kill Bill 2".

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Wer erfolgreich sein wolle, müsse Täter und nicht Opfer sein, sagt Dietmar Dahmen. Der Täter habe ein Ziel vor Augen und eine Idee, wie er dieses erreicht.

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"Die Innovationsgeschwindigkeit ist riesig und wird auch vom Markt angenommen. Die Sachen werden dadurch auch schneller alt. Facebook fängt an, schön langsam wieder out zu werden. Youtube ist mittlerweile normales Fernsehen", sagt Dietmar Dahmen zu Beginn seines Vortrages im Rahmen des P.O.M-Kongress, der Titel: "Liquide Zeiten - Wie das digitale Leben Menschen und Marketing verändert". Dahmen ist seit rund 20 Jahren in der Werbung tätig, Mitgründer von Architects of You und Dozent für Werbung an der Europäischen Filmakademie Ludwigsburg.

"Wenn wir wissen wollen, wie die Zukunft wird, müssen wir die Zeit zurückdrehen und uns anschauen, wo alles begonnen hat", sagt Dahmen auf dem Kongress "P.O.M. - Point of Marketing" und bringt auch gleich einen Rückblick. Bei Web 1.0 sei es um Information und Entertainment gegangen. Google ist dort der König. Web 1.0 wird bleiben, aber alles wird mobil, sagt er. Und Mobilität ändere natürlich auch die Art, wie wir mit dem Internet umgehen.

Dahmen ortet vier Arten von mobilen Anwendungen. Als ersten Punkt nennt er "Daily Digital", hier gehe es vor allem um Information. Dahmen: "24 Prozent der Konsumenten machen per Smartphone Vergleiche zu Produkten, auch direkt im Geschäft vor einer Kaufentscheidung." Genannt wird dieser Vorgang ROPO, sprich Research Offline, Purchase Online. Dieser Trend sei einfach da, das könne man nicht ignorieren. Darum sei es schlau, in den Stores kostenloses WLAN anzubieten und Internet in den Geschäften nicht zu blockieren. Diese Entwicklung habe gigantische Auswirkungen. Als Beispiel nennt er Nespresso, der Trend dort: In den Boutiquen gibt es nur wenige Maschinen zum Anschauen, der Rest wir via iPad im Store gezeigt. In einem Offline-Store findet so eine Online-Kaufberatung statt. Digital werde also täglich am Point of Sale (POS) eingesetzt. 

Gamification als "gigantischer Trend"

"Do It Digital" nennt er als weitere Anwendung, das sei "taskorientatet", wie Dahmen sagt. Hier geht es zum Beispiel um Banküberweisungen oder Terminorganisation. Websites für digitale Geräte werden auf der Straße verwendet, das müsse man freilich bei der Entwicklung bedenken, "diese Task-Dinger müssen idioteneinfach sein". In "Disruptive Digital" ortet er die dritte Anwendung, Beispiel: Talking Tom. Toll sei auch Sonify, hier wird aus einem aufgenommenen Text ein Song kreiert. Auch Gamification zählt Dahmen hierzu, das sei ein gigantischer Trend.

Bei "Fantasy Shopper" zum Beispiel können Anwender die Kleidung aussuchen, die sie in ihren Kleiderschrank hängen würden. Das sei Free Field Research, man könne damit in kurzer Zeit herausfinden, was gerade in ist. Und das sei viel mehr wert als die klassische Marktforschung. Durch Gamification erreiche man die Konsumenten und bekomme valide Information. 

Nächster Punkt: "Designer Digital". Dahmen: "Diese Kunstgeschichten werden gerade kommerzialisiert." Hier bringt er ein erfolgreiches Beispiel aus Amsterdam. Designer ohne Offline-Geschäft haben dort ihre Kleidung mittels einer Augmented-Reality-Anwendung auf die Straße gebracht, Shoppingerlebnis ohne realen Store sozusagen. Dahmen: "Formfitting-Geschichten werden immer besser, die Technik boomt."

Meinung von Freunden

Bei 2.0-Anwendungen stehen Publishing, Creating, Broadcasting im Mittelpunkt. Die Generierung von Daten, das Verbinden mit Freunden und das Teilen sind hier im Vordergrund. "Social Digital" erlaubt es, vor Kaufentscheidungen die Meinung von Freunden einzuholen, die nicht im Raum sind. Das werde immer wichtiger, so Dahmen. Freilich auch für Unternehmen, so ließ Fiat ein ganzes Auto von den Konsumenten bauen, erzählt er. Dahmen: "Hier ist nicht nur der Look, sondern der Content der Marke an die Konsumenten abgegeben worden." Das biete natürlich riesiges Identifikationspotenzial. Eine typische Web-2.0-Anwendung, "eine alte Geschichte, aber neu interpretiert", sieht Dahmen im "Social Seating"-Angebot der Fluglinie KLM. Hier können Sitznachbarn nach ähnlichen Interessen ausgewählt werden. 

Bei Web 3.0 gehe es um "Self Creating", man wird selbst Teil einer Geschichte. Beispiel: der Champion-Chip. Glückwünsche von Fans werden in einen Chip implementiert, der wiederum im Schuh eines Fußballstars angebracht ist. Die Idee dahinter beschreibt Dahmen so: "Mein Wunsch ist in seinem Schuh, ein Teil von mir ist da drin."

Computer verschwindet

Danach folgen die Web-4.0-Anwendungen, eine große Rolle spielt hier die Individualisierung. Dahmen: "Alle Lücken verschwinden, man ist absolut verbunden." Auch der Computer verschwinde in dem Sinn, dass die Maschine dahinter nicht mehr bemerkt werde. Beispiele: Voice Operation Shopping oder iPhones Siri. Dahmen erzählt auch von der Anwendung Kickbee, einem Gürtel für Schwangere, der einen Tweet absetzt ("I kick my Mum at 11.29 a.m."), sobald das ungeborene Baby die Mama tritt. Auch das intelligente T-Shirt, das bei einem Herzanfall einen Notruf sendet, sei ein solches Beispiel. 

Totale Transparenz stehe im Mittelpunkt der Web-5.0-Anwendungen, so Dahmen, hier gehe es um transparente Produkte und transparente Menschen. Beispiel: Man macht ein Foto, die Maschine erkennt das Produkt und liefert Infos, wo ich dieses Produkt kaufen kann. Das funktioniere freilich auch mit Personen. Das sei natürlich politisch ein heikles Thema. Dahmen: "Ich will aufzeigen, dass es geht." Ein Tool des Frauenhofer Instituts etwa analysiert Gesichter und gibt an, in welcher Stimmung die Person ist. Diese Möglichkeiten würden natürlich werblich genutzt. So seien in London bereits zahlreiche Werbeplakate mit Gesichtserkennung ausgestattet. Beispiel: Eine schlecht gelaunte Frau geht an einem Plakat vorbei, dann erscheint die Werbung eines Schokoladenherstellers. Man werde in seiner Stimmung abgeholt, "handgemachte Werbung" sozusagen.

"Kurvenkleben passiert dauernd"

"Heute ist alles connectet, und das zeitgleich", so Dahmen. "Das ändert natürlich komplett unseren Entscheidungsprozess." Und zwar weg vom Entscheidungstunnel, hin zur "Entscheidungsmembran", wie er es nennt. "Real Time Decisions" seien immer besser als geplante Entscheidungen. Dahmen: "Die Jetzhaftigkeit der Information wird immer wichtiger."

Und diese Entwicklung gehe wahnsinnig schnell. "Firmen haben Angst, dass sie die Bodenhaftung verlieren, aber diese Entwicklung passiert in Sprüngen." Viele hätten "keinen Bock auf die Sprünge, sie wollen die Kurve weiterfahren". Aber das Leben habe sich nicht linear entwickelt. Dahmen: "Kurvenkleben passiert dauernd." Als Beispiel dafür nennt er den bankrotten Videoverleiher Blockbuster, der in Onlinediensten keine Bedrohung sah, oder auch Nokia, Polaroid und Sony, das einst mit dem Walkman erfolgreich war. 

Diese Firmen hätten eine "Warum"-Haltung, wie Dahmen sagt. Mit dieser Haltung wolle man eine Zieländerung vermeiden. Aber nur mit einer "Warum nicht"-Haltung könne man punkten. Dahmen: "Produkte, Services und Marken sind Gegner in der Markenarena. Nur das Publikum entscheidet, wer bleibt oder stirbt." Es gehe darum, wie man das Publikum glücklich macht. 

Dahmens Tipps, wie das funktioniert:

  • Fame um eine Marke aufbauen
  • Weg vom Content-Management - man könne nicht mehr alle Medien kontrollieren, nur orchestrieren - und hin zur Customer-Experience. Als Beispiel nennt er hier die T-Mobile-Begrüßungsaktion am Flughafen Heathrow.
  • Weg von der Markendiktatur, hin zur Demokratie, Stichwort Use-Vertising. Dahmen: "Menschen trauen anderen Menschen."
  • My-Vertising: Weg vom Broadcasting, hin zum Egocasting. Dahmen: "Leute lieben sich selbst, ihre individuelle Situation, man ist selber der Star." Beispiel: Skittles mit der personalisierten "Update the Rainbow"-Aktion.
  • Weg von der digitalen Komplexität, hin zur digitalen Einfachheit. "Menschen mögen es einfach", sagt Dahmen, "man geht nicht mehr hinaus, um sich einen Film zu besorgen."
  • Weg von der Separation, hin zur Integration. Menschen lieben Extras, Stichwort: Handy mit Kamera, Handy mit Store.

"Größer denken, die Grenzen sprengen", appelliert Dahmen an die Werber, "nicht kopieren, nicht der Zielgruppe hinterherlaufen, sondern Neues schaffen." Wer erfolgreich sein wolle, müsse Täter und nicht Opfer sein. Der Täter habe ein Ziel vor Augen und eine Idee, wie er dieses erreicht. Opfer seien passiv. "Keine Angst vor der Angst haben", plädiert er. Und sich nicht schnell zufriedengeben, denn "Zufriedenheit ist gut, verhindert aber, dass man richtig super wird". (Astrid Ebenführer, derStandard.at, 24.5.2012)