Wenn meine Kollegin einen Anruf aus ihrem westlichen Bundesland bekam, wechselte sie automatisch in den Dialekt ihrer Heimat. Für mich, die sich das Hochdeutsche in der Spätpubertät aus Büchern und dem öffentlich-rechtlichen Nachmittagsprogramm erkämpft hatte, war das eine weitere Fremdsprache. Durch meine Bürokollegin erkannte ich das Konstrukt der (deutschen) Nationalsprache: Die gezielte Entwicklung von Nationalsprachen löste die geografisch begründeten sprachlichen Unterschiede eines Landes auf, die Massenmedien taten das Ihre dazu.

Die Mehrheit der Menschen ist mehrsprachig. Damit ist nicht zwangsläufig das Beherrschen einer Fremdsprache gemeint. Dialekte und Minderheitensprachen gehören auch in Österreich zur gelebten Wirklichkeit. In vielen anderen Gesellschaften hat man sich auf eine oder mehrere Amtssprachen geeinigt, parallel dazu werden Umgangssprachen gepflegt. Ein Aufwachsen mit nur einer Sprache ist die Ausnahme, nicht die Norm. Das trifft nicht nur auf die Eilte der Informationsgesellschaft zu.

Die Debatte um die Mehrsprachigkeit betrifft in Europa und in Österreich vor allem die MigrantInnen und ihre Nachkommen. Ihre ethnische Herkunft und ihre wenig prestigeträchtigen Muttersprachen sowie die mehrheitliche Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht machen aus ihrer Mehrsprachigkeit ein "Integrationsproblem". Während ehrgeizige Eltern ihren Kindern teuren Zusatzunterricht in Englisch und neuerdings auch Chinesisch gönnen, wird am Stammtisch das "Sprachverbot" diskutiert. Im 21. Jahrhundert wird ernsthaft darüber diskutiert, ob man Kindern verbieten soll, im Pausenhof ihre Muttersprache zu benutzen. Die besonders Rechten und besonders Populistischen wie der der Klubobmann der Wiener Freiheitlichen, Johann Gudenus, wollen sogar Sprachpolizei in den öffentlichen Verkehrsmitteln spielen.

Wenn Gudenus und seinesgleichen eine Sprachnormierung für Wiener Straßenbahnen fordern, dann meinen sie freilich nicht die italienischen oder japanischen Touristen. Sie meinen die Migrantenkinder, die, von angeblicher "doppelte Halbsprachigkeit" befallen, von einer in die andere Sprache wechseln. Dieser Sprachgebrauch, der sich allen sprachlichen und grammatischen Fakten widersetzt, ist ein Phänomen, aber gewiss kein Integrationsproblem.

Auch die Bildungsbürger, die sich gerne über sprachliche Varianten jenseits des Standards mokieren, haben ein sprachliches Repertoire, aus dem sie je nach Situation gezielt auswählen. Genauso handeln mehrsprachige Menschen. Sie sind nicht doppelt oder dreifach einsprachig, sie haben ihre eigenen Regeln. Das anzuerkennen bedarf einer anderen, reflektierten Sicht auf Sprache und ihre Wandelbarkeit. Dazu kommt der Umstand, dass in unterschiedlichen sozialen Schichten auch unterschiedliche sprachliche Varianten entwickelt werden. Jene, die in ökonomisch schlechter gestellten Kreisen gesprochen werden, finden naturgemäß weniger Anerkennung.

Das "Kauderwelsch", das man auf Wiens Straßen hören kann, ist die sprachliche Realität einer postmigrantischen Gesellschaft. Wenn wir von Sprachförderung reden, dann sollte diese nicht lediglich in Belehrungsaktivitäten münden. Die Zweisprachigkeit der Migrantenkinder muss Anerkennung und Wertschätzung bekommen. Reden wir über die Bedeutung der Sprache für gesellschaftliche Integration und Verständigung, aber bitte nicht nur der deutschen Sprache. Es wird sich für ihr späteres Leben sicherlich "lohnen", wenn mehrsprachige Kinder auch das Standarddeutsche beherrschen, genauso sicher sollten sie aber auch in ihre Muttersprache sein.

Sprachbeherrschung ist kein Integrationsthema und schon gar kein Integrationsproblem. Schlechtere ökonomische Situationen, schlechte Bildungschancen gehen mit der schlechten Beherrschung der Sprache einher – und umgekehrt. Mit Migration und "doppelter Halbsprachigkeit" hat das nur am Rande zu tun. (Olivera Stajić, daStandard.at, 23.5.2012)