Bild nicht mehr verfügbar.

Immer öfter schief angeschaut wird die industrielle Tierhaltung. Das Wohlergehen und die Rechte von Tieren werden nun auch wissenschaftlich hinterfragt.

Foto: APA/Fohringer

Auch die Wissenschaft beschäftigt sich verstärkt mit Tierethik und Tierrechten. Wiener Forscher wollen nun mit einem Open-Access-Projekt den Diskurs vorantreiben. 

Und es bewegt sich doch etwas in der oftmals festgefahrenen Beziehung zwischen Tier und Mensch. Tierschutz ist von der kuschelig-tränentreibenden "Wer will mich"-Ecke einschlägiger Formate auf die Wissenschafts-, Kultur- und nicht zuletzt Gerichtsseiten "aufgestiegen".

Bezeichnend für die aktuelle Situation ist die Verleihung des internationalen Myschkin-Preises, der heuer im Jänner erstmals für beispielgebendes Verhalten in Kunst und Technik vergeben wurde - und zwar an den Tierrechtsaktivisten Martin Balluch. Der streitbare Kämpfer für einen ethischen Umgang mit Tieren, der von namhaften Intellektuellen wie Peter Sloterdijk oder Peter Weibel für sein Engagement mit 50.000 Euro geehrt wurde, galt als Hauptbeschuldigter im Tierschützerprozess jahrelang als Kopf einer kriminellen Organisation. In den USA wurden radikale Tierrechtsaktivisten vom FBI vor einigen Jahren sogar als größte terroristische Bedrohung in der amerikanischen Innenpolitik gesehen - all das zeigt, welch enormen gesellschaftlichen Sprengstoff das Thema birgt.

Hal Herzogs "Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren" oder "Tiere essen" des amerikanischen Kultautors Jonathan Safran Foer sind nur zwei von vielen aktuellen Bestsellern zum Mensch-Tier-Verhältnis. Das Thema boomt aber nicht nur in der Literatur, auch Philosophen, Juristen, Soziologen, Verhaltensforscher und (Tier-)Mediziner beschäftigen sich verstärkt damit.

So ist es wohl kein Zufall, wenn sich das heurige Philosophicum Lech im September den Rechten von Tieren und unserem Verhältnis zu ihnen widmet. Möglicherweise ist hier tatsächlich ein Paradigmenwechsel zu beobachten. Selbst in Österreich, wo es lange so gut wie keine intellektuelle Lobby für den Schutz und die Rechte von Tieren gab, deutet einiges auf einen grundlegenden Bewusstseinswandel hin.

Mensch-Tier-Beziehungskiste

Ein relativ starkes Indiz für die Entwicklung eines neuen, wissenschaftlich fundierten Tierschutzes ist jedenfalls die Eröffnung des Messerli-Instituts an der Veterinärmedizinischen Uni Wien, wo gemeinsam mit der Uni Wien und der Medizin-Uni die verschiedenen Facetten der Mensch-Tier-Beziehung erforscht werden. Dass allerdings neben den drei neu eingerichteten Lehrstühlen für Vergleichende Kognitionsforschung, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung und Komparative Medizin ausgerechnet jener für Tierschutzrecht - für den sich übrigens etliche anerkannte Wissenschafter beworben haben - bis auf weiteres leer bleibt, lässt aufhorchen.

Schwingt hier die Angst mit, dass Tierschutz von einer juristischen Warte aus betrachtet unter Umständen konkretere Folgen haben könnte als die Diskussion ethischer Prinzipien? Warum also diese Leerstelle? Laut Vetmed Wien verfüge das Institut für Tierhaltung und Tierschutz ohnehin über ausgewiesene Expertise im Tierschutzrecht. "Der Rechtsbereich ist somit durch die enge Zusammenarbeit beider Institute abgedeckt und gesichert. Was die vierte Professur betrifft, so wird derzeit sondiert, welcher inhaltliche Bereich die drei bestehenden Lehrstühle am besten ergänzt und dem interdisziplinären Ansatz entspricht", sagt Doris Sallaberger aus dem Rektoratsbüro. Die Entscheidung darüber sei im Laufe des nächsten Jahres zu erwarten.

Ein anderes wissenschaftliches Großprojekt zum Thema wurde von der Forschungsstelle für Ethik und Wissenschaft im Dialog am Philosophieinstitut der Uni Wien in Angriff genommen: die Einrichtung der ersten "European Encyclopedia of Animal Welfare" (EEAW) - einer mehrsprachigen, multi- und interdisziplinären Online-Enzyklopädie mit dem Schwerpunkt auf Tierschutz im Kontext von Recht, Ethik und Politikwissenschaft.

"Mit dieser Open-Access-Enzyklopädie wollen wir den internationalen und interdisziplinären Diskurs zwischen den relevanten Disziplinen vorantreiben", sagt der Ethiker und Rechtsphilosoph Erwin Lengauer, der das Projekt leitet. Zu diesem Zweck sollen wissenschaftlich fundierte, bevorzugt aktuelle Artikel nach einem Peer-Review zweimal jährlich online gestellt werden. "Eine zentrale Rolle spielen dabei auch die von uns initiierten Country-Analyses, in denen sich Wissenschafter aus verschiedenen Disziplinen dem aktuellen Stand von Tierschutz, Tierethik und Tierrecht in ihrem jeweiligen Land widmen."

Diese Faktensammlung ermöglicht erstmals einen Staatenvergleich auf akademischem Niveau und die Beobachtung internationaler Entwicklungen - nicht zufällig lehnt man sich an Open-Access-Projekte wie etwa die Stanford Encyclopedia of Philosophy an. "Damit soll die Basis für eine längst überfällige Verankerung der 'Comparative Animal Welfare Studies' im internationalen Diskurs gelegt werden", betont Erwin Lengauer. Als Autoren wollen die Herausgeber neben renommierten insbesondere auch junge Forscher gewinnen. Ihnen bietet die EEAW eine breitenwirksame Publikationsmöglichkeit, die auch kritische Positionen erlaubt.

Forschungsstrategien

"Wir bekommen laufend Anfragen und haben bereits ein Expertennetz geknüpft, das kontinuierlich wächst", sagt Lengauer. Im Juni wird das Projekt in Brüssel auf der Animal Welfare Conference präsentiert, wo Strategien für eine effizientere Umsetzung der "European Animal Welfare Strategy (2011-2015)" der Europäischen Kommission erarbeitet werden sollen. Während sich in den USA - trotz der schlechten realen Situation - die Tierrechtsforschung an den Universitäten schon lange etablieren konnte und auch finanziell stark gefördert wird, entstehen in Europa erst seit einigen Jahren vergleichbare wissenschaftliche Einrichtungen.

Zu den ältesten tierethisch orientierten zählt das 2004 gegründete Institut für Tierschutz und Tierverhalten an der Freien Uni Berlin. Der Zuwachs an entsprechenden Forschungszentren und akademischen Ausbildungsmöglichkeiten birgt die Chance, die Diskussion über Tierrechte und Tierschutz sachlicher, faktenorientierter und damit auch wirksamer zu führen - auch wenn das Thema immer auch ein emotionales bleiben wird. (Doris Griesser, DER STANDARD, 23.5.2012)