Die Flame Towers, neues Wahrzeichen Bakus, überragen die Boomstadt fast aus jeder Perspektive.
Foto: Josef Kirchengast/Der STANDARD

Personenkult, künstlerisch verbrämt: Präsident Ilham Alijew in der Lobby des neuen Fünf-Sterne- Marriott in Baku.

Foto: Josef Kirchengast/DER STANDARD

Britische Taxis mit dem Eurovisions-Logo als Ausdruck westlichen Lebensstils.

Foto: Josef Kirchengast/DER STANDARD
Foto:

Baku/Wien - Das könnte auch an der Côte d'Azur sein: ein kilometerlanger Korso mit Palmen, Eisdielen, Restaurants, Tingeltangel. Die Flaneure genießen das südliche Flair. Auch die Älteren sind westlich gekleidet, ganz selten sieht man Frauen mit Kopftuch. Lange nach Mitternacht, wenn sich die Staus auf dem vierspurigen Boulevard langsam auflösen, sind noch Familien mit Kleinkindern unterwegs.

Und irgendwann schaut jeder zu den Flame Towers, dem neuen Wahrzeichen Bakus. Es symbolisiert den Öl- und Gasreichtum, der Aserbaidschan in den zwei Jahrzehnten der Unabhängigkeit einen Wirtschaftsboom beschert hat. Die Lichtspiele auf den gigantischen Glasfassaden zeigen abwechselnd stilisierte Flammen und fahnenschwingende Menschen. Ein riesiges "echtes" Exemplar der blau-rot-grünen Flagge Aserbaidschans, auch nachts unübersehbar, weht am südlichen Ende der Bucht.

Gleich daneben steht die nagelneue Chrystal Hall. Dort wird am kommenden Samstag das Finale des Eurovision Song Contest 2012 ausgetragen. Der Sieg des aserischen Duos Ell und Nicki im Vorjahr hat dem Kaukasusland unverhofft eine Weltbühne verschafft.

Personenkult

Die autoritäre Führung des Landes unter Präsident Ilham Alijew will die Chance nutzen, um Aserbaidschan als europäisches Land mit offener, pluralistischer Gesellschaft darzustellen. Opposition, NGOs und westliche Menschenrechtsorganisationen wiederum verweisen auf anhaltende Repression und unterdrückte Meinungsfreiheit. Auf dem Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen rangiert Aserbaidschan auf Platz 152, noch hinter dem Irak und Afghanistan.

Die offizielle Darstellung vom Land mit europäischen Standards wird aber auch von einem anderen, gleichfalls offiziellen Bild konterkariert: einem byzantinisch anmutenden Personenkult um den früheren Präsidenten Gaidar Alijew und dessen Sohn und Nachfolger Ilham. Gaidar Alijew war in den 1960er-Jahren Chef des Sowjetgeheimdienstes KGB und später eineinhalb Jahrzehnte Parteichef der Sowjetrepublik Aserbaidschan. Dass er dann zum Vater des unabhängigen Staates wurde, mag man als Ironie der Geschichte sehen.

Jedenfalls ist Gaidar Alijew fast allgegenwärtig: in Form von elek- tronischen Plakaten auf Plätzen und Straßen oder von blumengeschmückten Statuen in jedem Regierungsgebäude. Bilder des amtierenden Präsidenten Ilham sind meist von solchen des Vaters flankiert. Dieser hatte, schon schwerkrank, den Sohn als Nachfolger installiert. 2003 wurde Ilham formal gewählt.

Mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit

Die Botschaft des doppelten Personenkults ist klar: Legitimität, Kontinuität, Stabilität - die Alijew-Dynastie als Staatsräson und Ersatzreligion. Und so findet man ein künstlerisch verbrämtes Konterfei von Ilham Alijew auch in der Lobby des neuen Marriott, eines von vier Fünf-Sterne-Hotels, die in den letzten fünf Monaten in Baku eröffnet wurden.

Legitimität? Elnur Aslanow, Abteilungschef für politische Analyse und Information in der Präsidialverwaltung, nennt im Gespräch mit österreichischen Journalisten Umfragen, die Ilham Alijew derzeit mehr als 80 Prozent Zustimmung geben. Dessen Wiederwahl im kommenden Jahr sei demnach sicher. Der Präsident sei populärer als Regierung und Verwaltung, meint Aslanow und räumt ein, dass es ein großes Korruptionsproblem gibt.

Kritik an mangelnder Meinungs- und Pressefreiheit will Aslanow nicht gelten lassen. Der Journalist Eynulla Fatullajew hatte jüngst in einem STANDARD-Interview gesagt, die Situation sei heute schlimmer als vor sechs, sieben Jahren. Der Song Contest könne etwas zum Positiven bewirken, wenn Journalisten ins Land kämen und über die Verhältnisse berichteten. Fatullajew war nach mehrjähriger Haft im Mai 2011, nach dem Eurovisions-Sieg Aserbaidschans, von Alijew begnadigt worden. Vor kurzem erhielt er den Unesco-Pressefreiheitspreis.

Journalisten in Haft

"Kein Journalist sitzt in Aserbaidschan im Gefängnis für das, was er gesagt oder geschrieben hat", kontert Präsidentenberater Aslanow Berichte von Menschenrechtsorganisationen, wonach neben mehreren Oppositionellen weiterhin auch sechs Journalisten inhaftiert sind. Die Medienleute seien wegen Teilnahme an "illegalen Aktivitäten", wegen Verleumdung oder Beleidigung verurteilt.

Zur medialen Öffentlichkeit insgesamt meint er, es gebe nicht nur, wie Fatullajew beklagt, lediglich noch zwei Oppositionszeitungen, sondern eine Million User von Facebook und Twitter. 60 Prozent der neun Millionen Einwohner Aserbaidschans seien im Internet aktiv, davon drei Millionen 14- bis 29-Jährige: "Das Internet kann man nicht kontrollieren."

Ob linientreu oder regimekritisch: Praktisch alle Gesprächspartner verweisen auf die religiöse Toleranz in Aserbaidschan mit seiner zu 85 Prozent muslimischen (schiitischen) Bevölkerung. Diese säkulare Gesellschaft sei dem benachbarten Iran, wo schätzungsweise 25 Millionen Aseris leben, ein Dorn im Auge. Deshalb gebe es auch zunehmende Versuche Teherans, Aserbaidschan zu unterwandern und "eine fünfte Kolonne im Land zu schaffen", meint ein Regierungsvertreter, der ungenannt bleiben will.

Bei aller Kritik am gegenwärtigen System herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass Aserbaidschan mit seiner geopolitischen Lage, seinem Öl- und Gasreichtum und seinem Gesellschaftsmodell für den Westen von eminenter Bedeutung sein müsse. Asim Mollazade, Chef der im Parlament vertretenen oppositionellen Demokratischen Reformpartei: "Die Eurovision sollte kein politisches Thema sein. Aber wenn tausende Europäer und Amerikaner herkommen, ist das in unserem strategischen Interesse." (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 22.5.2012)